Galgeninsel
und die Gassen der Insel. Dann konnte ihm seine Stadt gar nicht voll genug sein. Er fühlte sich wohl in diesem gezügelten Sein und blickte nach rechts zum See. Die Sonne stand zwischen Bayerischem Löwen und Leuchtturm. Es war ein ungewöhnlich heißer Tag im Mai. So musste es sein zu dieser Zeit, bei diesem Wetter – voller Menschen und voller Klang, ohne jede marktschreierische Attitüde, die der weltoffenen Bürgerlichkeit und reichsstädtisch geprägten Historie auch nicht angemessen gewesen wäre.
Er nahm einen Cappuccino im Café Schreier und dachte über den Fall Kandras nach ohne recht weiterzukommen. Im Gewirr der Menschen sah er plötzlich den verrückten Josef. Obwohl er sich den Geschwindigkeiten der um ihn herumtreibenden Menschen anpasste, war er schnell auszumachen. Er ging wie eine Marionette, schwingend, federnd. Beine, Arme und Kopf wippten träge nach, wenn auch nur einer von ihnen in Bewegung geriet. So schwang sich die gebogene Gestalt des verrückten Josef vom Bahnhof kommend in Richtung Brettermarkt. Er trug braune Sandalen, grün-rot gemusterte Strümpfe, eine viel zu weite schwarze Cordhose. Darin steckte ein Bergsteigerhemd mit weitem Kragen. Ein altersschwacher Hosenträger hielt den Hosenbund etwas über Bauchnabelhöhe, und so sah es aus, als hinge der schlanke Körper in einer sich von selbst bewegenden, schwarzen Cordhose. Da Josefs Nacken gekrümmt war, konnte er zur Seite hin nur dann blicken, wenn er den Kopf drehte. Und da Josef unbändig neugierig war, sah er ständig nach links, nach rechts, ließ dabei die Zunge immer wieder über die Lippen gleiten und drehte die Augen weit heraus. Manchmal geschah es, dass ein Gast in überraschter Konfrontation mit dieser Gestalt erschrocken auswich. Schielin kannte Josef seit der Kindheit und er war sich sicher, dass der Kerl überhaupt nicht verrückt war, auch wenn alle ihn verrückt nannten. Er war lediglich ein Kind geblieben, dass nun im märchenhaft verrenkten Körper eines Mannes sein Dasein fortführte.
Wenn Josef wild drauf war, ging er schon mal an einen der Tische, soff schnell ein fremdes Glas Bier leer, und rannte dann feixend und mit lautem Freudengekreisch davon. Einmal hatte Schielin beobachtet, wie er vor dem alten Rathaus stand, starr und bewegungslos, mit abenteuerlich verdrehtem Kopf die bemalte Fassade betrachtete, dabei mit der rechten Hand in Blickrichtung deutete. Kaum hatte sich eine kleine Ansammlung Neugieriger um ihn geschart, drehte er sich mit einem Sprung um, bleckte die Zähne, streckte die Zunge mit einem lauten »Bähhh« heraus und sprang, so wie es ihm eben möglich war zu springen, davon.
Schielin wartete bis er auf seiner Höhe war und rief ihn. Er kam, zog Schielin zur Begrüßung zuerst unsanft am Haar, knuffte ihn dann freundschaftlich mit den Handknöcheln in die Wange und fragte mit dem ihm eigenen animalisch gehauchten Lauten, wie es ihm ginge. Schielin ignorierte die verstohlenen, teils erschrockenen, teils neugierigen Blicke der Umsitzenden, grinste und wog den Kopf dabei. Josef lachte. Dann zwickte er Schielin in die Schulter und presste ein heiseres »Äsl« hevor. Josefs Sprache war verwaschen und brachte immer etwas bedrückend Düsteres mit sich.
Als Josef ihn anstieß und »Polezei? Hm!« sagte, sah Schielin ihn ernsthaft an und antwortete, dass er jemanden suchen müsse, der verschwunden war. Josef blickte betroffen und nickte.
»Kandras«, sagte Schielin in das kurze Schweigen, ohne darüber nachzudenken, weshalb er den Namen nannte. Die Wirkung auf den verrückten Josef erschütterte ihn. Mit einem erschrockenen, zugleich angstvollen »Ah« fuhr der zusammen, fing ein aufgeregtes Zappeln an und stob davon. Erst geradewegs Richtung Mangenturm, dann nach rechts weg, zum Bahnhof vor. Dabei schlenkerten Arme und Beine, begleitet vom hochfrequenten Nicken des Kopfes, als zögen unsichtbare Gummifäden unkoordiniert an allen Extremitäten. Schielin war ebenso erschrocken und sah ihm nach. Was hatte er mit Kandras zu tun? Und was machte ihm so Angst, wenn er den Namen hörte?
*
Das alte Bürgerhaus, in dem Faynbach & Partner ihre Büros hatten, befand sich nicht weit vom Hafen entfernt, in der Ludwigstraße. Auf diesen Kehrenbroich war er sehr gespannt. Die Büroräume waren jedoch eine Enttäuschung für ihn. Er hatte noch nie Gelegenheit, die Räume einer Privatbank aufzusuchen, weder dienstlich, und privat schon gar nicht. Er hatte aber ganz konkrete Vorstellungen davon, wie
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