Galgeninsel
nach etwas Kleinem. Eine mächtige Markise breitete Schatten über der Terrasse aus und zwei Liegen, nicht direkt nebeneinander sondern einige Meter voneinander entfernt, standen auf der akkurat gepflegten Rasenfläche. Handtücher lodderten darauf. Kein Pärchen, dachte Schielin und ging langsam weiter, nahm Notiz von den breiten Fugen zwischen den Natursteinen, die den Weg zum Hauseingang wiesen, wo Anna Kandras die Tür öffnete
Sie stand aufrecht in der Tür. Ihre Arme hingen locker herab; sie hatte also keine Verlegenheitsgesten notwendig, registrierte Schielin. Keine Finger, die aufgeregt miteinander spielten, keine verschränkten Arme. Sie strahlte Selbstbewusstsein aus. Ihre leicht gewellten, schulterlangen Haare glänzten im Sonnenlicht und verrieten auch die leiseste Bewegung ihres Kopfes durch sanften Schwung. Eine helle, lockere Sommerbluse fiel über eine bequeme, cremefarbene Baumwollhose. Keines der Kleidungsstücke war darauf ausgelegt, die verhüllten Körperteile auf besondere Weise in Szene zu setzen. Und gerade diese inszenierte Lockerheit richtete Schielins Gedanken auf den Körper, der sich unter weichem Faltenwurf verbarg; dessen Haut vermutlich in gleichem Maße gebräunt war wie die ihres Gesichts. Keine Sonnenstudiobräune mit jenem kränklich wirkenden Gelbstich. Anna Kandras war zurückhaltend und auf natürliche Weise gebräunt.
Ein auffordernder Blick und ein leise gesprochenes »Bitte«, leiteten Schielin durch den Flur in einen einzigen großen Raum. Breite Dielen verströmten Ruhe und Geborgenheit. Zwei Fixpunkte gaben dem Raum inneren Halt. Mittig ausgerichtet, der breiten Fensterfront zugewandt, dominierte eine dunkelblaue Sitzgruppe, bestehend aus drei Sofas und einem Sessel, in schlichter Eleganz. Die zum Garten hin weisende Hausseite bestand aus einer nur von Rahmenteilen unterbrochenen Glasfront. Die Schiebetüren waren weit geöffnet und ließen immer wieder einen frischen Hauch in den Raum. Seitlich an den Wänden standen Regale, übervoll mit Büchern. Stehend, liegend, gekippt, teilweise aufgeschlagen. Zum Boden hin verdichtete sich das Chaos und Bücher, Magazine, wie ledergebundene Wälzer verließen die Ordnung der Regalböden und nahmen in kniehohen Stapeln am Boden verteilt Raum ein.
Im hintern Bereich des Raumes, der durch zwei Stufen höher gesetzt war, stand ein Flügel, halb geöffnet. Notenstapel wucherten neben dem Hocker in die Höhe.
Schielin folgte Anna Kandras auf die Terrasse und sog die Eindrücke ein. Wie um alles in der Welt kam Kandras zu dieser Frau? Andererseits musste er sich die Frage stellen, was Anna Kandras veranlasst hatte, sich mit einem Mann wie Kandras einzulassen.
Er nahm in einem weich gepolsterten Gartensessel Platz. Eine leichte Brise brachte die Markise leicht zum Flattern und er hätte sich gerne mit geschlossenen Augen nach hinten fallen lassen. Aber das wäre eine Sünde gewesen angesichts seiner Gesprächspartnerin. Schielin holte sein Notizbuch aus dem Jackett, behielt es in der linken Hand und verneinte die Frage, ob er etwas trinken wolle, während er überlegte, wie er das Gespräch gestalten sollte. Das alte Frage- Antwortspiel erschien ihm vorerst nicht geeignet zu sein. Würde sie sich animieren lassen einfach zu erzählen?
Das wäre ihm im Moment lieber und hätte ihm Zeit gegeben zu überlegen und zu schauen. Er versuchte es.
»Frau Kandras. Wie sie ja inzwischen wissen, hat Herr Dr. Kehrenbroich am Samstag ihren Mann als vermisst gemeldet …«
Er wollte gerade weitersprechen, als sie die kurze Pause nutzte um einzuhaken. »Sie werden sich sicher wundern, weshalb dies durch Herrn Dr. Kehrenbroich geschehen ist?«
Schielin hob wie entschuldigend beide Hände, ohne ihre Frage zu beantworten. Was hätte er auch sagen sollen.
Sie ließ die Pause nicht zu lange werden und sprach mit ruhiger Stimme weiter. »Ich lebe seit vielen Jahren getrennt. Wir sahen uns äußerst selten, denn das Wenige, was wir miteinander zu besprechen hatten, ließ sich auch telefonisch abwickeln. Wir sind aber nicht geschieden, was geschäftliche Gründe hat, die ich nicht erörtern möchte. Ich kann Ihnen über seine Lebenssituation also überhaupt nichts erzählen und habe auch keine Kenntnisse darüber, wie er seine Tage zugebracht hat, mit wem er sich traf oder welche geschäftlichen Verpflichtungen er in letzter Zeit wahrzunehmen hatte.«
Sie hielt einen Augenblick inne und fügte ernst und nachdrücklich hinzu: »Und das alles
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