Dezembersturm
I.
Die Finger ihres Großvaters bohrten sich in Lores Schulter.
Sie stöhnte vor Schmerz auf, hob den Kopf und sah sein bleiches, zornverzerrtes Gesicht über sich. Erschrocken fragte sie sich, womit sie den alten Herrn so sehr verärgert haben mochte. Dann erst bemerkte sie, dass er angestrengt durch das Fenster blickte. Dort teilte ein schnurgerader, scheinbar endlos langer Karrenweg den vom Licht der tiefstehenden Abendsonne beschienenen Forst. In einer halben Stunde würde die Dämmerung den Wald in Schatten tauchen, aber noch war es hell genug, um die stattliche Kutsche des Freiherrn von Trettin auf Trettin zu erkennen, die sich, von vier Pferden gezogen, dem alten Jagdhaus näherte.
Der alte Herr ließ Lores Schulter ebenso überraschend los, wie er sie gepackt hatte, drehte sich um und eilte in sein Zimmer. Beklommen folgte sie ihm und sah, wie er den Gewehrschrank öffnete, eine Doppelflinte herausnahm und sie mit zitternden Händen lud.
»Großvater, tu’s bitte nicht!«, flehte sie und vergaß in ihrer Angst ganz, dass sie ihn mit »Euch« hätte anreden müssen. Zu jeder anderen Zeit wäre sie scharf gerügt worden, doch nun starrte der alte Herr auf die Waffe und stellte sie mit einer bedauernden Geste zurück in den Schrank.
»Du hast recht, Lore! Eine Ratte erschlägt man, aber man vergeudet keine Patrone an sie.« Er kehrte zum Fenster zurück und blickte der näher kommenden Kutsche entgegen. Dabei erschien eine scharfe Kerbe über seiner Nase, und er stieß eine leise Verwünschung aus. »Der Kerl will sich wohl mit eigenen Augen überzeugen, ob ich bereits ganz am Boden liege. Aber diesem ehrlosen Lumpen werde ich heimleuchten!«
Wolfhard Nikolaus von Trettin legte sich bereits die Worte zurecht, die er seinem Neffen an den Kopf werfen wollte, als sein Blick auf Lore fiel. »Ich glaube, es ist besser, du gehst nach Hause. Ottokars Konversation war noch nie amüsant und ist auch nicht für Kinderohren geeignet.«
Lore wollte den alten Herrn schon daran erinnern, dass sie vor vier Wochen ihren fünfzehnten Geburtstag gefeiert hatte und in diesem Alter sich andere Mädchen bereits ihr eigenes Brot verdienen mussten, doch nach einem Blick in sein versteinert wirkendes Gesicht besann sie sich eines Besseren und versuchte ihn auf einem anderen Weg umzustimmen.
»Es ist schon spät, Herr Großvater, und ich werde nicht vor Einbruch der Nacht zu Hause ankommen.«
Der alte Herr schnaubte verärgert. »Hat Elsie dir wieder Schauergeschichten erzählt und dir Angst vor Waldgeistern gemacht? Aber die gibt es nur in der Phantasie dieser dummen Pute.«
»Nein, Herr Großvater«, versicherte Lore. »Das ist es gewiss nicht!«
Ungeduldig versetzte er ihr einen leichten Stoß. »Mach jetzt, dass du verschwindest! Ottokars Kutsche hält bereits vor der Tür, und ich will nicht, dass er dich hier sieht.«
Lore meinte zwar, sie könne sich ebenso gut auf dem Dachboden oder im Keller verstecken, damit der neue Freiherr auf Trettin sie nicht bemerkte, doch kannte sie ihren Großvater gut genug, um ihm nicht zu widersprechen. Daher knickste sie und verschwand im selben Moment durch die Hintertür, in dem der Besucher von vorne ins Haus kam und breitbeinig in das Zimmer ihres Großvaters trat.
Ottokar Freiherr von Trettin hatte keine Ähnlichkeit mit seinem hochgewachsenen, trotz seines Alters noch stattlichen Onkel. Das, was ihm an Körpergröße fehlte, machte er an Umfang wett und wirkte daher fast so breit wie hoch. Sein rundes Gesicht warvon gesunder Farbe, die kleinen Augen standen eng zusammen, und die Nase glich einer Kartoffel. Seine schwindende braune Haartracht wurde von einem Zylinder aus geschorenem Biberpelz bedeckt, und auch die anderen körperlichen Mängel suchte er durch übertrieben elegante Kleidung wettzumachen: Sein Rock und seine Hose stammten gewiss aus einem hochmodischen Schneidersalon. So ausstaffiert wirkte er neben seinem in einen schlichten Lodenanzug gekleideten Onkel wie ein gutgemästeter Pfau.
Auf dem hageren Gesicht des alten Herrn wechselten Ekel, Hass und Zorn in rascher Folge, doch das schien den Besucher wenig zu stören.
Ottokar von Trettin trat auf den Hausherrn zu und hielt ihm den vergoldeten Knauf seines Gehstocks unter die Nase, als wollte er ihm Schläge androhen. »Ich habe mit dir zu reden, Oheim!«
Obwohl er gedämpft sprach, verriet seine Stimme, dass nicht nur Lores Großvater seine Wut im Zaum halten musste.
»Was willst du denn noch von mir? Du hast
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