Garantiert wechselhaft
hinziehen.»
«Hinziehen …» Marie schnappte sich die Kirschtomate und steckte sie nachdenklich in den Mund. «Ernsthaft?»
«Wieso denn nicht? Wir hätten ein wunderschönes Haus mit Garten, würden uns die teure Miete hier sparen, und eine vernünftige Schule gibt es dort bestimmt auch.»
Außerdem würde keiner mit karierten Hausschuhen durch die Wohnung schleichen, und ich müsste nie mehr durch das vollgepisste Treppenhaus. Schluss mit dieser Wohn- und Psychomisere, die mir langsam die Luft zum Atmen raubte. Es wäre die Lösung!
«Und wir könnten voll das Biogemüse anbauen und Krach machen, so viel wir wollen», sagte Marie. Sie kicherte über meinen verblüfften Gesichtsausdruck.
«Du kannst dir wirklich vorstellen, aufs Land zu ziehen?» Das war ja fast zu schön, um wahr zu sein!
Marie zuckte mit den Achseln. «Klar. Abenteuer! Aber nur, wenn ich einen Raum zum Schlagzeugspielen bekomme.» Ich hielt ihr meine Rechte hin. «Versprochen. Hoch und heilig!»
Sie schlug ein, und wir begannen ein Freudentänzchen um den Küchentisch, das gleich wieder endete, als wir Stefans Schlüssel in der Wohnungstür hörten.
Marie flitzte über den Flur in ihr Zimmer.
«Wir reden später weiter», rief ich ihr nach.
Stefan schaute mich erfreut an.
«Nicht wir!», sagte ich und ließ ihn stehen.
Während das Gemüse im Ofen vor sich hin brutzelte, suchte ich weitere Aufnahmen von Wiestal heraus. Beim Betrachten lief ein Super-8-Film in meinem Kopf ab. Mit leicht verwackelten Bildern und plötzlichen Schnitten.
Onkel Hubert und ich auf dem alten Traktor bei der Kartoffelernte. Ziege Kathi, die beim Füttern plötzlich auf mich losgeht und vor der ich mich nur durch einen Sprung über den Zaun retten kann. Im hohen Gras liegen und endlos Wolkentiere am Sommerhimmel betrachten. Und ich erinnerte mich, wie toll es gewesen war, auf dem staubigen Dachboden Schatzsuche zu spielen.
Je mehr Bilder an die Oberfläche stiegen, desto verlockender wurde die Idee, mit Marie nach Wiestal zu ziehen. In das Haus, in dem ich mich immer so wohl gefühlt hatte.
Und plötzlich wurde mir auch klar, dass ich mein Leben lang immer auf etwas gewartet hatte: zuerst auf die große Liebe. Dann auf ein Kind. Und als Marie da war und ich glaubte, all meine Wünsche wären in Erfüllung gegangen, musste ich feststellen, dass Volker fremdging. Nach der unvermeidbaren Leidenszeit hatte ich es kaum erwarten können, endlich die Scheidungspapiere in der Hand zu halten.
Als Grafikerin war es mein Traum gewesen, mit meiner tollen Arbeit reich und berühmt zu werden – oder auch nur reich. Aber nach Maries Geburt hatte ich erst einmal für Volker gearbeitet. Seit ich wieder ganz auf mich gestellt war, kam ich mit dem bisschen Unterhalt, das er für Marie zahlte, und vielen schlecht honorierten Kleinaufträgen gerade so über die Runden. In meinem persönlichen kleinen Hamsterrad war ich permanent damit beschäftigt, alles am Laufen zu halten. Ich stand immer unter Strom und hatte gar nicht die Muße, andere Perspektiven zu entwickeln.
Doch das Gefühl, dass mein Leben unaufhaltsam in die falsche Richtung ging, überwältigte mich in letzter Zeit immer häufiger.
Denn allmählich lief mir auch die Zeit weg. Wann sollte ich mein Leben genießen, wenn nicht jetzt? In wenigen Jahren würde Marie aus dem Haus sein und ihr eigenes Leben führen. Und ich wäre dann alt und schlaff und hätte meines verpfuscht –
Moment, Nina, stopp! Cool bleiben. Noch ist es nicht zu spät! Denn hier ist er, mein Silberstreif am Horizont, mein Topf Gold am Ende des Regenbogens! Und ich wäre verrückt, wenn ich ihn nicht mit beiden Händen packen und festhalten würde.
Allmählich wurde es kalt im Auto. Ich rieb mir die Arme und fand das Leben ungerecht: Die Kirschtomate namens Wiestal lag zum Greifen nahe, und diese verdammte Karre hatte einfach den Geist aufgegeben.
Marie, die mit zwei Stiften einen nervtötenden Paradiddle auf ihrer Tasche übte, seufzte tief. «Vielleicht sollten wir doch Papa anrufen.»
«Geht nicht, schon vergessen? Außerdem habe ich mir in letzter Zeit genug von ihm anhören müssen.» Ob ich jetzt komplett verrückt geworden wäre, welch grauenvolle Schäden seine Tochter durch diesen Umzug davontragen würde und wie hirnrissig es sei, nach Wiestal zu ziehen, ohne sich vorher ein Bild der Lage gemacht zu haben. Da hatte es auch nichts genutzt, ihm immer wieder zu erklären, dass ich das selbstverständlich vorgehabt hatte, aber zum
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