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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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[832]  die – wieder einmal – um Fassung rang, rief
ihrerseits bei Duncan in Vermont an. Helen riet der jungen Jenny, wie sie
Duncan die Nachricht überbringen solle. Jenny Garp hatte von ihrer berühmten
Großmutter Jenny Fields viel Feingefühl im Umgang mit Bettlägerigen geerbt.
    »Schlechte Nachrichten, Duncan«,
flüsterte die junge Jenny und gab ihrem Bruder einen Kuss auf den Mund. »Die
alte Nummer neunzig hat den Ball verloren.«
    Duncan Garp, der sowohl den
Unfall, der ihn ein Auge kostete, als auch den Unfall, der ihn einen Arm
kostete, überlebte, wurde ein guter und ernstzunehmender Künstler; außerdem war
er eine Art Pionier auf dem künstlerisch suspekten Gebiet der Farbfotografie,
die er mit seinem Malerauge für Farbe und seines Vaters hartnäckigem Bemühen um
eine persönliche Vision weiterentwickelte. Er machte
keine absurden Bilder, da können Sie sicher sein, und er verlieh seinen Bildern
einen unheimlichen, sinnlichen, beinahe erzählerischen Realismus; wenn man
wusste, wer er war, konnte man leicht sagen, dies sei eher die Auffassung eines
Schriftstellers als eine Technik, wie sie zum Malen gehörte – und ihm vorwerfen,
was auch geschah, er sei zu »literarisch«.
    »Was immer das sein soll«, pflegte Duncan zu sagen. »Was erwarten sie eigentlich von einem
einäugigen, einarmigen Künstler – und dem Sohn von Garp? Keine Mängel?«
    Er hatte immerhin seines Vaters
Sinn für Humor, und Helen war sehr stolz auf ihn.
    Für einen Zyklus, den er Familienalbum nannte – die Schaffensphase, die ihn am
bekanntesten machte –, muss er [833]  an die hundert Bilder gemalt haben. Es waren
Bilder nach den Fotografien, die er als Kind aufgenommen hatte, nach dem
Augenunfall. Bilder von Roberta und seiner Großmutter, Jenny Fields; von seiner
Mutter beim Schwimmen in Dog’s Head Harbor; von seinem Vater beim Laufen am
Strand, mit seinem verheilten Kiefer. Dann gab es eine Serie von einem Dutzend
kleiner Bilder von einem schmutzig weißen Saab; die Serie hieß Die Farben der Welt, weil sich, wie Duncan sagte, alle
Farben der Welt in den zwölf Fassungen des schmutzig weißen Saab sichtbar
spiegelten.
    Es gab auch Kinderbilder von
Jenny Garp; und bei den großen Gruppenporträts – meist nach der Phantasie,
nicht nach irgendwelchen Fotografien – sagten die Kritiker, das leere Gesicht
oder die wiederholt auftauchende (sehr kleine) Gestalt mit dem Rücken zur
Kamera sei jedes Mal Walt.
    Duncan wollte keine Kinder haben.
»Zu verletzlich«, sagte er zu seiner Mutter. »Ich könnte es nicht ertragen
zuzusehen, wie sie groß werden.« Damit meinte er, dass er nicht ertragen könnte
zuzusehen, wie sie nicht groß wurden.
    Bei dieser Einstellung war es ein
Glück für Duncan, dass Kinder in seinem Leben kein Problem waren – sie waren
nicht einmal eine Sorge. Er kam von seinem viermonatigen Krankenhausaufenthalt
in Vermont heim und fand in seinem New Yorker Wohnatelier eine außerordentlich
einsame Transsexuelle vor. Sie hatte die Wohnung so eingerichtet, als hätte
bereits ein richtiger Künstler darin gewohnt, und infolge eines seltsamen
Prozesses – es war fast eine Art Osmose seiner Sachen – schien sie bereits eine
Menge über ihn zu wissen. Außerdem war sie in ihn verliebt – allein von seinen Bildern
her. Noch ein Geschenk [834]  Roberta Muldoons an Duncan! Und es gab einige Leute –
zum Beispiel Jenny Garp –, die sagten, sie sei sogar schön.
    Sie heirateten, denn wenn es je
einen Jungen ohne heimliche Vorurteile gegen Transsexuelle gab, dann war es Duncan
Garp.
    »Diese Ehe wurde im Himmel
geschlossen«, sagte Jenny Garp zu ihrer Mutter. Sie meinte natürlich Roberta;
Roberta war im Himmel. Aber Helen war ein Naturtalent, wenn es darum ging, sich
um Duncan zu sorgen; seit Garp gestorben war, hatte sie den größten Teil dieser
Sorgen übernehmen müssen. Und seit Roberta gestorben war, kam es Helen vor, als
habe sie alle Sorgen übernehmen müssen.
    »Ich weiß nicht, ich weiß nicht«,
sagte Helen. Duncans Ehe machte sie ängstlich. »Diese verdammte Roberta!«,
sagte Helen. »Sie hat immer ihren Willen bekommen!«
    Aber so
gibt es wenigstens keine unerwünschte Schwangerschaft,
    schrieb Ellen James.
    »Oh, hör auf!«, sagte Helen. »Ich wollte doch gern Enkelkinder haben, verstehst du?
Wenigstens eins oder zwei.«
    »Ich werde dir welche schenken«,
versprach Jenny.
    »O Mann«, sagte Helen. »Wenn ich
dann noch am Leben bin, Kleines.«
    Leider sollte sie dann nicht mehr
leben,

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