Gartengeschichten
November geworden, und man hat mal wieder einige unter dem Schafott rausgezogen und ihre Hinrichtung aufgeschoben. Leider. Blätter, Blätter, Blätter, Tonnen und Tonnen von raschelnden Blättern, das Kehren ist eine sehr melancholische Freude. Der marode Baum ist aber dran, und der stachelbeerlose Stachelbeerstrauch und diese Malve, die seit zwanzig Jahren blütenlos geblieben ist, und die Schneeforsythie, die damals sechzig Mark gekostet hat und eine ganz ordinäre Forsythie war, die schütter gelb und nicht weißrosa geblüht hat, wenn überhaupt – ihr seid fällig, und zwar jetzt. Längst hat sich der Garten die grellen Farben vom Gesicht gewischt und zeigt sich faltig und nackt. Manchmal hüllen ihn morgens Nebelschwaden ein, die vom Taunus heruntergekrochen sind, dann ist er bezaubernd. Der Nebel haucht winzige Glitzertropfen auf übriggebliebene Rosenblüten, die manchmal bis Weihnachten aushalten. Längst haben sich die Fische verzogen, die Krebsschere ist abgetaucht, sie hatte in diesem Jahr drei Ableger.
Richtige Gärtnerinnen und Gärtner sitzen jetzt mit Stauden-, Rosen- und Baumschulkatalogen bei selbstgemachtem Brombeerwein am Kamin und planen. Das machen sie bis kurz vor Weihnachten, dann fahren sie in den Wald und schlagen ein Tännlein. Vorher haben sie noch Barbarazweige geschnitten. Melancholisch sind sie nicht, weil ihnen die herbstwinterlichen Abschiede nichts ausmachen. Sie haben zum Töten ein pragmatisches Verhältnis, was sich der melancholische Gärtner jedes Jahr von neuem mit Gewalt anerziehen muß. Man sieht es ja ein: Und doch, und doch: dieser elende geerbte Russische Wein, der vor Jahren von der längst gestorbenen Freundin zum Einzug mitgebrachte und seitdemverabscheute, dennoch liebevoll gehegte und durchgefütterte Weihnachtskaktus – das sind doch Stücke von denen, Lebensstücke. Warum solche Memorabilia immer scheußlich sein müssen, ist ein Rätsel. Und da, die Eibe hat X. für uns gepflanzt, er hat sie von einem Waldspaziergang mitgebracht, und sie war nur ein Wichtel. Jetzt ist sie ein düsterer Riese, aber man kann sie doch nicht exekutieren. Ohne sie dächten wir längst nicht mehr an X., so aber jeden Tag, wenn auch ein bißchen unfreundlich.
Und so wird es endlich Dezember, die Melancholie bläht sich noch einmal mächtig auf, und zu Weihnachten kriegen wir von jemandem, der uns offenbar nicht gut kennt, eine Orchidee geschenkt. Mal sehen, wie lang wir es mit ihr aushalten müssen.
Der Winterfrühling, Januar, Februar und März, ist die Zeit der Phlegmatiker. Denn Phlegmatiker sind die einzigen, die die Langsamkeit nicht erst entdecken müssen. Deswegen fühlen sie sich in dieser scheinbar unbeweglichen Jahreszeit wohl. Man weiß, wieviel sich in ihr tut, überall fängt was an und arbeitet vor sich hin, unter der Erde, unter der Rinde, in den Zwiebeln, es räkelt sich und dehnt sich aus, aber sehen tut man erst mal gar nichts. Vor allem, wenn Schnee liegt oder wenn es stark gefroren hat, scheint nichts voranzugehen. Phlegmatiker haben die schöne Gabe, sich an der Bewegungslosigkeit freuen zu können. Sie schauen ruhevoll auf die Szenerie ihres Gartens, erinnern sich an manches, vielleicht keimt in ihnen ein Gedanke auf – dorthin könnte man eigentlich einen Säulenapfel setzen –, dann verabschiedet sich der Gedanke wieder, und zurück bleibt eine ruhige weiße oder dunkle Fläche. Phlegmatische Gärtner haben vorgesorgt und winterblühende Gewächse gesetzt. Hamamelis, Seidelbast und Helleborus, die scheren sich nicht um den Frost undtupfen Farbe in den Winter. Arbeit machen sie keine, sie sind auch nicht besonders anspruchsvoll. Je nach Wetter wacht dann der Garten auf, und immer noch geschieht alles ohne Zutun, höchstens, daß man den Schneeglöckchen ein paar nasse, faule Blätter vom Kopf klaubt, damit man sie besser sehen kann. Januar und Februar sind reine Beobachtungszeit, mit dem geschärften Blick der Winterruhe sehen wir all das kleine Zeug, wie es sich durch den Boden kämpft und triumphiert. Wenn es sehr kalt wird, legen sich die Schneeglöckchen schlapp auf die Erde, kaum scheint ein bißchen Sonne, stehen sie wieder grade und läuten. Es gibt ziemlich viele Sorten von ihnen, das längste je in meinem Garten gemessene war fünfundvierzig Zentimeter hoch und hatte sich durch eine Buchshecke gearbeitet, aber es hatte noch längst nicht aufgegeben, nachdem das Gestrüpp durchstoßen war, sondern war noch mindestens eine Handbreit weitergewachsen,
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