Gebieter der Dunkelheit
musste er mit Rachel Schluss gemacht haben. Welch ein Tag! Sie war nicht die Einzige, die schwerwiegende Entscheidungen getroffen hatte. »Das tut mir leid.«
»Mir auch.« Rachel zuckte mit den Schultern, als wollte sie sagen, dass es eben nicht zu ändern sei.
Naomi fasste sich ein Herz, denn Rachel konnte jeden Moment abgeholt werden, und dann würde sie nie mehr Antworten auf einige Fragen bekommen. »Du stammst nicht aus Fresno, oder?« Da Rachel die Stirn runzelte, schob sie eine lahme Erklärung hinterher: »Sie haben da diesen speziellen Akzent. Bill hat ihn mir vorgemacht. Er ist kaum rauszuhören. Aber wenn man erst einmal weiß, worauf man achten muss, erkennt man ihn.«
»Jetzt ist auch schon alles egal«, sagte Rachel und ließ ihren Blick über das Tal schweifen, als würde sie sich auf diese Weise vom Weingut verabschieden. »Ich habe geflunkert. Eigentlich komme ich aus Salinas. Ich habe gehofft, Mr Brookstone damit auf meine Seite zu ziehen, weil er dort studiert hat. Das Foto seiner Abschlussfeier auf der California State University ist mir im Gang zu den Schlafräumen aufgefallen. Die Lüge kam wie von selbst über meine Lippen. Ich schäme mich dafür, aber ich kann sie nicht rückgängig machen. Es spielt auch keine Rolle mehr, denn ich habe eh verloren.«
»Nicht alles«, wagte sich Naomi mutig weiter vor und zeigte auf ihren Bauch. »Ist das Kind von …« Absichtlich nannte sie keinen Namen.
Rachel biss auf ihre Unterlippe. »Sieht man es schon? Ich bin doch erst im dritten Monat.«
Ihre Skrupel ignorierend, nickte Naomi, obwohl Rachel rank und schlank aussah.
Ein tiefer Seufzer stieg aus Rachels Kehle auf. »Chad hat nichts bemerkt, dabei haben wir täglich … wie auch immer, so etwas kann wohl nur eine Frau in dem frühen Stadium erkennen. Ich war schon schwanger, als ich auf das Gut kam, und hatte gehofft, in Chad einen Vater für mein Kind gefunden zu haben. Dafür war ich auch bereit, wegen meiner Heimatstadt zu lügen. Alles umsonst.«
»Wer ist der Vater?«
Rachel schnaubte. »Ich habe mit ihm zusammen im Qualcomm Stadium bei den Spielen der San Diego Chargers Nachos und Budweiser verkauft. Wir sind ein paarmal danach zusammen ausgegangen und haben Gras geraucht. Eines Tages kam er nicht mehr zur Arbeit. Keine Ahnung, ob er einfach weitergezogen ist.« Da Naomi sie entgeistert anschaute, sagte sie zu seiner Verteidigung: »Er wusste nicht, dass ich ein Kind von ihm erwarte. Herrgott, ich wusste es zu dem Zeitpunkt nicht einmal selbst. Er war ein freier Vogel, genauso wie ich. Aber durch das Kind muss ich umdenken. Ich kiffe nicht mehr, ich schwöre es!«
»Was wirst du jetzt tun?«
»Ich habe es ganz schön verbockt, mein Leben, meine ich.« Rachel zuckte mit den Achseln. »Aber ich kriege das schon wieder in den Griff. Meine Eltern wissen Bescheid und warten auf meine Heimkehr. Ich werde das Kind bekommen und versuchen, ihm eine gute Mutter zu sein, jawohl, das werde ich.«
Sie kannten sich im Grunde gar nicht, aber Naomi fühlte sich verpflichtet, ihre Hilfe anzubieten, nicht nur, weil ein Familienmitglied ihr wehgetan hatte, sondern auch weil sie immer half, wenn jemand in Not war. Cheng hatte ihr Helfersyndrom stets übertrieben gefunden, aber sie konnte nicht aus ihrer Haut. Wahrscheinlich hatte sie es von Bill geerbt, er war genauso. »Falls ich dir irgendwie helfen kann …«
Rachel schüttelte den Kopf. »Nein, danke, aber nett von dir.«
Verständnisvoll nickte Naomi. Sie stand auf, um ihr eigenes Leben ebenfalls in die richtigen Bahnen zu lenken und eine Aussprache mit Cheng zu suchen.
»Warte!« rief Rachel, zog ihre Koffertasche näher und kramte darin herum. »Du bist doch mit Samuel befreundet.«
»Ja?« Nervös gluckerte ihr Magen.
»Hier.« Rachel zog ein großes, dickes Buch heraus und reichte es ihr. »Es ist viel zu schwer, um es mitzuschleppen. Und wenn ich ehrlich sein soll, interessiert mich Wein nicht mehr. Vielleicht kannst du etwas damit anfangen. Sam hat es mir geschenkt, dann habe ich auch das Recht, es weiterzuverschenken. Ist mir egal, ob er das Scheiße findet.«
Verdutzt nahm Naomi es an. Es handelte sich um ein hochwertiges Sachbuch mit festem Einband, Schutzumschlag und glänzenden Seiten, und war so schwer, dass sie es mit beiden Händen hielt. »Almanach der kalifornischen Weine« stand in großen Buchstaben auf dem Umschlag. Dem Inhaltsverzeichnis entnahm sie, dass es neben einer Auflistung der Weingüter der bekanntesten
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