Gebieter der Dunkelheit
Mochte er auch Gefühle für sie hegen, die über sexuelle Anziehungskraft hinausgingen, er spielte unfair! Sie sprang auf und las im Stehen den letzten Eintrag.
Naomi hat einen Freund. Und sie hat ihn verschwiegen. Hätte ich von ihm gewusst, hätte ich sie nicht angerührt, ich schwöre es! Meine Illusion, Naomi könnte mehr als nur das Opfer meiner Nötigung sein, nämlich die Frau, an deren Seite ich jede Nacht einschlafe, ist zerplatzt. Ich liebe Naomi. Jede Faser meines Körpers begehrt sie. Auch mein Herz. Vor allen Dingen mein Herz. Es ist das eines Kämpfers.
Bestand sein Kampf etwa darin, ihr sein Journal zu geben und damit nicht nur seine Gefühle preiszugeben, sondern auch einzugestehen, dass er weiterhin an seinem Manuskript schrieb? Vollkommene Offenheit, auch auf die Gefahr hin, sie zu verlieren. Das beeindruckte sie, gleichzeitig hatte sie keinen blassen Schimmer, was er sich dabei dachte.
Ich liebe Naomi. Dieser Satz hallte immer wieder in ihr nach. Ich liebe Naomi . »Und ich liebe Sam«, sagte sie leise, fast traurig, zu sich selbst. Aber manchmal reicht das nicht. Ein Verhältnis, das mit Sex und Lügen begann, konnte nicht in eine ehrliche Partnerschaft münden.
Sie schlüpfte in ihre Sandalen, steckte das Buch zurück in ihre Tasche und machte sich auf den Weg. Egal, was aus ihr und Samuel werden würde, Naomi war sich beim Lesen über eine Sache sicher geworden.
Sie konnte nicht länger mit Cheng zusammenbleiben, denn ihr Herz gehörte einem anderen Mann.
26
Als Naomi am Hauptgebäude ankam, parkte ein weißer Van mit dem Logo der Maroon Winery in der Zufahrt. Er war achtlos mitten auf dem Weg, der zum Wohnhaus führte, abgestellt worden, was nicht weiter verwunderlich war, da die meisten Wagen zur Kelterei unterhalb der Mauer fuhren und daher die Straße oberhalb nur selten benutzt wurde.
Naomi, die hinter dem Van stehen blieb, war viel erstaunter darüber, dass Rachel eine große Koffertasche in den Jamaikafarben gelb, grün und schwarz vom Eingang in Richtung Mäuerchen zog. Offensichtlich war es ihr egal, dass die Tasche, die ohnehin schon zerschlissen aussah, über den Sandboden schabte. Rachel wischte sich über die Stirn und spähte zur Kelterei, vor der einige Arbeiter einen Kleinlaster mit Weinkartons füllten.
Hatte sie vor abzureisen? Oder machte sie nur einen Ausflug? Naomi konnte sich keinen Reim darauf machen. Sie sah zum Haus und erwartete Chad zu sehen, doch niemand kam. Wie herrlich es duftete! Das Küchenfenster war gekippt. Rosamar backte Kuchen oder Pasteten, die es zum Abendessen geben würde.
Rachel sah heiß aus, musste Naomi neidlos zugeben. Ihre schlanken, braungebrannten Beine ragten aus Jeans-Hot-Pants heraus, die sich eng an ihren Apfelhintern schmiegten. Die mit bunten Perlen bestickte Jeans-Weste bedeckte ihre Brüste mehr schlecht als recht; sie quollen seitlich heraus, und der Ausschnitt war unanständig tief. Naomi hätte auf jeden Fall ein T-Shirt darunter getragen, aber Rachel machte den Anschein, als hätte sie es an diesem Tag darauf angelegt, besonders sexy auszusehen. Scheinbar war ihr Plan, welcher das auch immer gewesen sein mochte, nicht aufgegangen, denn sie ließ die Arme hängen und murmelte verdrießlich einige Worte, die Naomi nicht verstehen konnte.
Rachel ging ins Haus zurück, kam jedoch sogleich wieder heraus. Sie schulterte ihren olivfarbenen Leinenrucksack mit dem Hanf-Symbol und schlenderte zu ihrem Koffer. Einige Sekunden lang stand sie unschlüssig herum, schaute mal den Hügel hinauf, als würde sie auf ein Taxi oder Chad warten, und dann wieder zur Kelterei.
Rachel, geblendet von der Sonne, schirmte ihre Augen mit einer Hand ab, spähte noch einmal die Straße, die von der Maroon Winery nach St. Helena führte, hoch und setzte sich seufzend auf das Mäuerchen. Dann schaute sie auf die Armbanduhr, die am Gurt des Rucksacks befestigt war, und schnalzte.
Naomi fasste sich ein Herz und ging zu Rachel, denn sie musste mit ihr reden, bevor es zu spät war. Sie setzte sich einfach neben Rachel auf das Mäuerchen und zeigte auf die Koffertasche. »Hi. Fährst du deine Eltern in Fresno besuchen?«
Eine dezente Röte stieg in Rachels Wangen. »Ich verlasse Maroon, für immer.«
»Was ist mit Chad?«
»Er hat sich für eine andere entschieden«, antwortete sie trocken, doch Naomi hörte die Verbitterung heraus.
Jenn. Sie und Chad hatten wirklich sehr verliebt ausgesehen. Während Naomi am Racoon Creek gesessen und gegrübelt hatte,
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