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Gebieter der Dunkelheit

Gebieter der Dunkelheit

Titel: Gebieter der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Henke
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jahrelangen Verschwiegenheit empfand sie immer noch eine starke Verbundenheit mit ihm. Aber es hatte nichts damit zu tun, dass das gleiche Blut in ihren Adern floss – sondern weil er ihr Leben lang für sie da gewesen war.
    Warum war sie dann so aufgelöst? Er hatte sie belogen, hatte sie im Ungewissen gelassen. Doch das Schweigen war nicht seine Entscheidung gewesen, sondern er hatte es zum Schutz seiner Familie getan. Aus demselben Grund, aus dem sie sich Samuel hingegeben hatte.
    Seufzend holte sie das Notizbuch aus ihrer Tasche und wusste längst, dass sie Bill verzeihen würde. Sie liebte ihn, daran hatte sich nichts geändert. Natürlich sah sie ihn jetzt mit anderen Augen, aber die Dinge würden sich nicht grundlegend ändern, weil er immer schon die Vaterrolle in ihrem Leben übernommen hatte.
    Aber was war mit Sam? Er war lange nicht so unschuldig, wie er ihr einzureden versuchte. Unschlüssig drehte sie das Moleskin in ihrer Hand. Wollte sie wirklich lesen, was er über die sexuellen Abenteuer ihrer Familienangehörigen gesammelt hatte? Nein, aber sie musste wissen, was genau er in Erfahrung gebracht hatte.
    Ihr fiel ein, dass sie nie auch nur ein einziges Kapitel gelesen hatte, bevor Sam es im Schredder zerkleinert hatte. Abgelenkt durch ihr Begehren, war sie zu leichtgläubig gewesen.
    Nervös schlug sie die erste Seite auf. Laut las sie die Überschrift: »Journaleintrag Samuel McAvoy«, und stutzte. Irritiert überflog sie die ersten Zeilen. Das, was er ihr gegeben hatte, war gar kein Notizbuch, sondern etwas viel Kostbareres. Sams Tagebuch! Er hatte es Mitte Juni begonnen. Aufgeregt blätterte Naomi vor, las hier und dort und langweilte sich schnell, denn Sam schrieb über das hübsche Gästehaus, das er bezogen hatte, was sich seit seinem ersten Besuch im Frühjahr auf Maroon im Napa Valley verändert hatte und wie froh er war, sich mit William Brookstone geeinigt zu haben, ja, sogar über das mediterrane Wetter. Kein Hinweis auf die Sexeskapaden der Familie Brookstone.
    Samuel hatte das Weingut schon einmal aufgesucht, das hatte niemand erwähnt. Weshalb? Hatte Sam auch Onkel Bill in der Hand? Dad, korrigierte sie sich und spürte eine angenehme Wärme im Brustkorb. Klang gar nicht so übel. Sie musste sich zwar erst noch daran gewöhnen, was gewiss eine Weile dauern würde, aber es fühlte sich richtig an. Das war ein guter Anfang.
    Flink blätterte sie die Seiten um und suchte nach einem Eintrag Anfang Juli. Hatte er etwas über ihr erstes Zusammentreffen geschrieben, damals, als sie einfach im Gästehaus aufgetaucht war, da sie nicht wusste, dass es belegt war, und seine Sexratgeber entdeckt hatte. Enttäuscht stellte sie fest, dass Samuel am 1. Juli nichts aufgeschrieben hatte. Doch auf der nächsten Seite fand sie die Notizen.
    Naomi kommt mir vor wie eine Wildrose, die kurz vor dem Vertrocknen ist. Du spürst die Glieder meiner unsichtbaren Kette noch nicht, doch ich habe dich längst in Fesseln gelegt. Schon bald wirst du vor deinem Verlangen kapitulieren und dich mir hingeben. Lust und Leid liegen so nah beieinander. Unter meiner Führung werden sie verschmelzen. Dich in die Knie zwingen. Dein freches Mundwerk wird dann nur noch betteln. Um Gnade. Um mehr. Um endlich von mir gevögelt zu werden. Naomi, Naomi, hörst du mein Flüstern. Mein Locken. Komm zu mir.
    Nein, nein, nein! Aufgebracht schlug sie das Moleskin zu und warf es ins Schilf. Was bildete sich dieser Kerl ein? Sie hätte sich niemals mit ihm einlassen und Cheng hintergehen dürfen. Es war falsch, widerwärtig! Wahrscheinlich saß er in diesem Moment im Gästehaus, stellte sich vor, wie sie seine erniedrigenden Berichte las und lachte in sich hinein, während er sein Enthüllungsmanuskript an seinen Verleger abschickte. Fast hätte sie ihm geglaubt, als er meinte, sie hätte ihn verletzt.
    Armer Cheng! Er hatte es nicht verdient, hintergangen zu werden. Warum tat man Dinge, die man selbst nicht guthieß? Aus reiner Triebhaftigkeit? Weil man in seiner Beziehung unglücklich war? Alles nur lahme Ausreden! Man durfte nicht etwas Neues anfangen, bevor man das Alte nicht beendet hatte. Aber manchmal stolperte man in etwas hinein.
    Warum konnte sie nicht einen Mann finden, der beides in sich vereinte: die Sicherheit, die Cheng ihr bot, und die Abenteuerlust, für die Samuel ein Experte war.
    Cheng könnte seine dominante Neigung entdecken oder Sam sich als solider Mann entpuppen, dachte sie, schüttelte über sich selbst den Kopf und

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