Gebrauchsanweisung für die Welt
können: die Freundlichkeit. Als Reisender erst recht nicht. Als Heimatloser mitten unter fremden Frauen und Männern, fern aller Freunde, fern aller beruhigenden Fixpunkte, bin ich wie ein ausgesetzter Hund von ihr abhängig: the kindness of strangers . Ohne sie vereise ich. Jeder Akt der Unfreundlichkeit macht mich – wie jeden von uns – einsamer. Weil dann die Nähe zum anderen, so kurzfristig, so flüchtig die Begegnung auch sein mag, nicht funktioniert. Die Wärme fehlt, das Spielerische, wieder einmal der Swing.
Das dümmliche Gerede geht um, dass Höflichkeit Verlogenheit bedeute. Klar bedeutet sie das, wenn ich jemanden anstrahle, den ich für einen Schandfleck unter den Sterblichen halte. Oder strahle, weil ich jemanden abzocken will. Aber dann heißt mein Verhalten nicht Höflichkeit, sondern Gier oder Skrupellosigkeit oder Gesinnungshurerei. Natürlich hat höfliches Benehmen – das fremde, das eigene – auch einen »Hintergedanken«: dass es uns beiden – wer immer der andere sein mag – gut geht. Dass wir den einen gemeinsamen Augenblick, vielleicht einzigen in unserem Leben, mit Leichtigkeit meistern.
Bisweilen überkommt mich das Gefühl, dass der Prolo die Weltherrschaft übernommen hat. Im Inland, im Ausland. »Mineralwasser!«, bellt er. Oder »Bier!« Oder »Zahlen!« Sein Auftreten hat etwas von einem Imperator. Auch zieht er gern den Rotz durch die Nase. Oder redet hemmungslos in sein Handy. Mitten unter Wildfremden lässt er uns wissen, dass er gestern wegen einer Schuppenflechte beim Arzt war, »direkt unter der linken Achsel«. Irgendwann haben alle im Zugabteil erfahren, dass er wieder einmal – »Scheiße!« – beim Eurolotto die falschen Zahlen getippt hat. Und dass er die neue Staffel von Sex and the City – maßgeschneidert für die geistig Unterdotierten aller Länder – »supergeil« findet.
Ja, das zwangsweise Mithören anderer Leute Leben – wenn es wenigstens fetzig wäre oder voll beflügelnder Gedanken oder gebeutelt von bewegendem Unglück – gehört zu den Pestbeulen moderner Zeiten. Wie ein Virus verseucht es die Diskretionszonen anderer.
Höflich sein – Freundlichkeit und Höflichkeit sind schwer befreundet – geht anders. Es hat mit einer Eigenschaft zu tun, die sich Empathie nennt. Unterwegs kann man sie stündlich trainieren: seine Umgebung spüren, sie wahrnehmen. Im vorliegenden Fall begreifen, dass meine Abszesse, meine Nieten und mein Geschmack (wenn es denn einer ist) niemanden etwas angehen, sprich, niemanden interessieren. Am liebsten sind mir Reisende, die in meiner Nähe lesen oder staunend zum Fenster hinausschauen oder sich (verhalten) beschmusen oder einander Geschichten erzählen, von denen man wünschte, sie würden lauter verbreitet.
Empathisch mit dem Rest der Welt umgehen! Wäre ich Diktator, ich würde den Ausrufesatz als Pflichtfach einführen. Als meinen Beitrag zur Rettung des Planeten und seiner Bewohner.
Eigentlich haben es Reisende leichter, durch Höflichkeit aufzufallen. Weil sie ja hochgestimmt sind, weil sie sich in einem Ausnahmezustand befinden. Sie dürfen die Welt besichtigen, während andere – die vielen anderen – nicht vom Fleck kommen: weil ohne Zeit, ohne Geld, ohne Kraft.
Ich bin gerührt wie ein Kind am Geburtstagstisch, wenn ich den kleinen Gesten der Ritterlichkeit begegne. Wenn ich Zeitgenossen dabei beobachte, wie sie ihren Platz anbieten. Bereit sind zu stehen, damit der andere sich setzen kann. Wenn sich eine so altmodische Eigenschaft wie Respekt vor dem Alter zeigt. Auch aus dem Bewusstsein heraus, dass der andere schon länger am Leben ist, schon länger kämpfen und schuften musste. Einer steht für einen anderen auf, ein Starker hilft einem, der gerade eine Prise Mitgefühl braucht. Füttert das nicht das Herz eines jeden, der Ziel dieser Aufmerksamkeit ist?
Ich erinnere mich an ein Mittagessen in einem Londoner Restaurant. Als ich das Lokal verließ, sah ich eine ältere Dame beim schwierigen Versuch, ihren Mantel anzuziehen. (Der Hinweis auf das ungefähre Alter ist wichtig, damit ersichtlich wird, dass mich keine hundsgemein niedrigen Instinkte trieben.) Da ich mich selbst gerne als Ritter sehe, eilte ich hinzu, um ihr zu helfen. Und was passierte? In Todesangst sprang sie zur Seite, fest davon überzeugt, gerade Opfer eines Überfalls zu werden. So weit sind wir also: Mitten am helllichten Tag, mitten in einer zivilisierten Umgebung erwartet keiner mehr, dass ihm ein
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