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Gebrauchsanweisung für die Welt

Gebrauchsanweisung für die Welt

Titel: Gebrauchsanweisung für die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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(bescheidener) Akt der Hilfsbereitschaft widerfahren könnte.
    Ja, es wird noch absurder. Szenenwechsel. Ich öffne eine Tür und sehe, dass mir von der anderen Seite jemand entgegenkommt. Blitzschnell entscheide ich, die Tür aufzuhalten, bis der andere durchgegangen ist. Dabei handelt es sich bei ihm (bei ihr) um einen ganz »normalen« Menschen. Weder Greis noch Rollstuhlfahrer noch atemberaubend attraktiv. Und wie reagiert der Ochse, die Kuh? Geht ohne cooles Kopfnicken vorbei, ohne Blick, ohne Danke, wohl fest davon überzeugt, dass ich hier herumstehe, um den Schnöseln dieser Welt als doorman aufzuwarten.
    Immerhin kann man via solche Erfahrungen etwas lernen: dass die Prolos – sagen wir, all jene, deren Herzensbildung nie stattfand oder über die Jahre versiegte – aus allen Schichten kommen. Quer durch alle Altersgruppen, egal auch, ob hochgradig blöd oder akademisch gebildet, in Sandalen oder in Nadelstreifen, mit einem Watschengesicht oder unerhört schön. Ich wundere mich stets aufs Neue, dass ich noch immer nicht vom Äußeren auf die Innenwelt eines Menschen schließen kann. Jeder und jede überraschen mich. Immer wieder.
    Ob Reisende, statistisch gesprochen, eleganter mit anderen umgehen, auch das weiß ich nicht. Ich vermute aber, dass sie es sollten. Denn ohne dieses Vademecum Höflichkeit kommen sie nicht weit. Hier ein Beispiel, eher nicht empfehlenswert: In einem Café in Venedig saß ein junger Kerl, in Hörweite von mir, die Zeitschrift »Kicker« lag vor ihm. Der Kellner kam auf ihn zu und fragte ihn nach seinem Wunsch. Um die Antwort unseres Mannes aus Quakenbrück besser zu verstehen, soll erwähnt werden, dass der Ober (auch) Deutsch sprach. Mit Fehlern, aber hinreichend. So sagte der eine: »Was wünschen bitte Sie?« Und so antwortete der andere: »Du mir bringen eine Kaffee!« Drei Fehler mit fünf Wörtern, das ist nicht schlecht: Kein Bitte, kein Sie, kein korrektes Deutsch. Vielleicht hatte er seine Auftritte vom eigenen Vater abgeschaut, beim heimischen Wirtshausbesuch. Vielleicht findet er sich umwerfend witzig. Wie auch immer. Da ich Fremdschämen nur bedingt ertrage, zudem grundsätzlich allergisch auf diese Hinterwäldler-Duzerei reagiere, habe ich mir erlaubt, ihm zwei Zettel an den Tisch zu tragen. Als meinen Beitrag zur Verschönerung der Welt, darauf stand: »Lernen Sie bitte heute noch auswendig: ›Es lebe die Würde des Menschen.‹« Und: »Sagen Sie beim nächsten Mal einfach: ›Bitte bringen Sie mir einen Kaffee.‹« Oft halte ich den Mund, aber manchmal muss ich ein Stoppschild aufstellen. Ob ich das Recht dazu habe, ist mir vollkommen egal. Ich tue es einfach.
    Noch ein Beispiel. Da musste ich mich nicht fremdschämen, da reichte es völlig, dass ich mich schämte. Über mich . Auf dem Hauptpostamt in Lima: Ich ging zum »poste restante«-Schalter, um einen Brief, einen Liebesbrief, abzuholen. Dachte ich. Von wegen. Ich fragte und keine Post lag für mich bereit. So verlor ich die Nerven, denn entgangene Liebeszeilen schaffen Stress. Und ich fing an, den armen Angestellten zu beschimpfen. Dass er nicht richtig geschaut habe. Dass er nicht richtig gelesen habe. Dass er nicht richtig sortiert habe. Dass er den Vornamen mit dem Nachnamen verwechselt habe. Ich war ziemlich phantasievoll im Begeifern eines Unschuldigen. Das Aufregende an der Situation aber war dieser Mann, der zu Unrecht verdächtigte. Wie ein Zen-Meister ließ er den Fehdehandschuh liegen und blieb auf geradezu provozierende Weise gelassen, ja freundlich. Nicht um eine halbe Note stieg seine Stimme, die jeden neuen Angriff mit erstaunlicher Ruhe parierte. Und erklärte. Soweit man einem Wichtigtuer etwas erklären kann. Zudem blickte er mich unverwandt an, ohne einen Funken Zorn in den Augen. Ein heiliger Peruaner, unschlagbar.
    Als ich mich schließlich mit einer wütenden Handbewegung wegdrehte und Richtung Ausgang eilte, geschah es: Der Postler hatte mich weichgespült, mich mit Sanftmut erledigt. Die Macht der Nachsicht, ziemlich unheimlich. Zweihundert Meter hielt mein Widerstand noch durch, dann musste ich umkehren und mich bei ihm entschuldigen. Er lächelte nur, meinte cool: »No se preocupe«, machen Sie sich keine Sorgen. Wie ein Anfänger, dem jemand eine Lektion Leben erteilt hatte, schlich ich davon.
    Ich will es nicht übertreiben mit den Aufrufen zur Lebensform eines Gentleman ( a man who is gentle : mild, vornehm, behutsam). Es kommen Gelegenheiten, da verpuffen die Kräfte der

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