Der erste Weltkrieg
I. Der Erste Weltkrieg und seine Kosten
1. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert
Wer den Ausbruch, den Verlauf und das Ende des Ersten Weltkriegs rückschauend aus der Perspektive des beginnenden 21. Jahrhunderts betrachtet, mag angesichts der Welt, in der wir heute leben, die Ereignisse der Jahre 1914–1918 nicht mehr ganz so unbegreiflich finden, wie sie zuerst den Zeitgenossen in den zwanziger Jahren erschienen. Damals war in vielen Kreisen die Ansicht verbreitet, dass Europa von einer Naturkatastrophe heimgesucht worden sei.
Man glaubte, ein Orkan sei über die Menschen hinweggefegt, der Teile Europas in eine öde Mondlandschaft verwandelt hatte. Und nachdem die Waffen dann endlich schwiegen – so hieß es damals weiter – kam erneut die Natur daher und überdeckte die Felder des millionenfachen Todes mit einem sanften hügeligen Grasteppich oder mit Getreidefeldern, in denen die für Nordfrankreich und Flandern so typischen roten Mohnblumen im Winde mit den Ähren schwankten. Das waren die Blumen, die in Großbritannien bis heute am Totensonntag im Knopfloch zur Erinnerung an den «Great War» getragen werden, als der der Weltkrieg den Engländern immer noch erscheint. Auch die Toten aus den verschlammten Schützengräben und Granattrichtern der Westfront wurden – soweit man sie noch identifizieren konnte – nicht auf den desolaten Schlachtfeldern, sondern in grünen «Heldenhainen» und – wie die Franzosen sie nannten –
jardins de funèbre
zur letzten Ruhe gelegt.
An dieser Interpretation des Krieges haben viele Schriftsteller mitgewirkt, die den Krieg nach 1918 in ihren Romanen und Memoiren romantisierten. Aber auch in den Bevölkerungen Europas und unter den Hinterbliebenen kam das Bild einer Naturkatastrophe einem verständlichen Bedürfnis entgegen,diese Jahre zu bewältigen. Erst in den späten zwanziger Jahren – wie weiter unten zu zeigen – erschienen Bücher und Filme, die die Erfahrungen der Jahre 1914–1918 realistischer beschrieben. Und schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass viele Menschen, die damals politisch links standen, die Heroisierungen des Konflikts nie akzeptiert haben.
Doch selbst wenn wir die Erklärung des Ersten Weltkrieges als Naturkatastrophe heute zurückweisen und ihn als ein Ereignis sehen, das von Menschen ausgelöst, vorangetrieben und schließlich erschöpft beendet wurde, der Eindruck des Apokalyptischen bleibt, je mehr wir uns in die Ursachen und den Verlauf des Konflikts vertiefen. Dies gilt umso mehr, weil wir auch wissen, dass «1914–18» nur der Beginn einer viel längeren Epoche war, die Europa und die ganze Welt schließlich mit einer weiteren Orgie der Gewalt überzog. Gibt es doch viele gute Argumente dafür, dass der Zweite Weltkrieg, der noch höhere Totenziffern produzierte und schließlich im Holocaust kulminierte, eine Fortsetzung des Ersten war. Zwischen diesen beiden Konflikten lagen Jahre des fortgesetzten Bürgerkriegs, des gegenseitigen Mordens unter innenpolitischen Gegnern mit kaum gezählten und zählbaren Opfern.
Auch nach 1945, als der Zweite Weltkrieg endlich vorüber war, ging das Töten weiter, diesmal allerdings verlagert auf Regionen außerhalb Europas in der so genannten «Dritten Welt», ganz zu schweigen von den Opfern, die die Errichtung stalinistischer Diktaturen in der «Zweiten Welt» nach 1945 forderte. Insgesamt starben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sogar mehr Menschen einen gewaltsamen Tod als in der ersten. Heute liegen die Schätzungen für das gesamte Jahrhundert bei 187 Millionen Toten, davon ca. 50 Millionen für den Zweiten Weltkrieg und 20 Millionen für den Ersten. Wer die Soldatenfriedhöfe des Ersten Weltkriegs in Nordfrankreich gesehen hat, ist von dem Meer von Grabkreuzen und -steinen überwältigt. Sich ein Areal mit 20 Millionen oder gar 187 Millionen solcher Kreuze und Steine vor Augen zu führen, übersteigt wohl unsere Vorstellungskraft.
Damit ist freilich nicht gesagt, dass wir ebenso hilflos vor derFrage nach den Ursachen, dem Verlauf und dem Ende der von Menschen ausgelösten Katastrophe stehen. Vielmehr gilt es auch in diesem Buch, auf knappem Raum zu analysieren und zu erklären, was damals geschah. Doch sollen zuvor noch einige weitere Zahlen genannt werden, die bei Kriegsende 1918 bereits vorlagen oder später von den Historikern erarbeitet worden sind. Zur weiteren Vorausorientierung des Lesers sollen dann in einem letzten Unterabschnitt dieses
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