Gebrauchsanweisung für die Welt
Vornehmheit und ein reality check muss her. Um zu erkennen, dass jetzt nur rohe Kräfte taugen. Nehmen wir eine Haltestelle in Shanghai. Wohlerzogen hintereinander aufstellen und der Reihe nach einsteigen funktioniert hier nicht. Schneller kommt einer weg, wenn er sich, zum Beispiel, an sein früheres Leben als Boxer erinnert. Oder an seine Begabung als gnadenloser Drängler. Berufe, die hier definitiv helfen, einen Bus zu entern. Wer nicht grob werden will, der muss eben warten. Bis die 1,3 Milliarden Chinesen vor ihm abgefahren sind.
Jeder weiß es: dass Lächeln an manchen Orten nicht funktioniert. Wie vor einem Rezeptionisten, der behauptet, das Hotel sei voll. Erst nach Hinterlegung von Extramoney gibt es noch ein »letztes Bett«. Er gehört zu jener Spezies, die dem Reisenden in immer neuen Uniformen begegnet. Als Zöllner, als Visumbeamter, als Schaffner, als Soldat, als Rezeptionist eben. Sie besitzen etwas, das – hat jemand Pech – selbst mit Charme und (korrekter) Bezahlung nicht zu haben ist: ein Zimmer, einen Stempel, ein Dokument, ein Ticket, eine Passage. Hier amtshandeln – in Amt und Würden – Korrumpierte, die sich mit keinem Lächeln kaufen lassen, nur immer mit Banknoten. Bisweilen hilft ein Bluff, eine frech vorgetragene Drohung, eine Finte, eine waghalsige Lüge. Aber meist nicht. So wenig wie eine Einladung zur Höflichkeit. So ist Zahltag. Weil einer Macht hat und sein Gegenüber augenblicklich machtlos ist.
Aber es gibt noch eine andere Rasse, die nie eine Uniform schmückt. Auch keine Machtposition. Und die sich trotzdem von keiner Galanterie beschwichtigen lässt. Man findet sie auf allen fünf Kontinenten: Jene Männer und Frauen, die kein Glück hatten im Leben. Weil sie – ein möglicher Grund für ihr Unglück – hartnäckig der Freundlichkeit aus dem Weg gingen. Weil sie schon vergessen haben, dass sie als so einfaches, so preisgünstiges Rezept taugt, um mit den Anwürfen des Lebens (lässiger) fertigzuwerden. Die Herzkammern der Freudlosen sind bereits verschweißt. Sie sprühen nicht mehr, ja verweigern sich jedem Signal von außen. Tote Hosen, tote Röcke, tote Seelen. In diesem Fall – und der Rat gilt für die Fortgeschrittenen unter uns – muss einer eisern entschlossen freundlich bleiben. Darf auf keinen Fall gegen die Herztoten in den Krieg ziehen. Den Postbeamten in Lima könnte ich als Vorbild nennen. Vielleicht funkt es doch zwischen den beiden, die sich gerade begegnen, vielleicht schmilzt doch der eine oder die andere. Und taut. Und erinnert sich an heiterere Zeiten, heiterere Umgangsformen.
Aldous Huxley soll zuletzt sprechen. Die folgenden Sätze wirken wie Wunderpflanzen aus dem fernen Amazonien: Wer sie lange genug kaut, hebt ab. Mühelos, leichtfüßig, beschwingt. Ja, auch der englische Autor (»Schöne neue Welt«) hat innig suchen müssen, bis er wusste, was zählt: »Es ist mir fast peinlich. Aber nach all den Jahrzehnten der Suche, nach den vielen spirituellen und psychologischen Wegen, die ich kennengelernt habe, nach all den zahlreichen großen Meistern, denen ich begegnen durfte, bin ich zu folgendem Schluss gekommen: Die machtvollste und zuträglichste Praxis ist wohl, sich selbst und dem gesamten Universum freundlich zu begegnen.«
Der magische Moment: Afrika 2
Ich würde gern ein oder zwei Dutzend Geschichten aus Afrika erzählen, aber nur eine hat noch Platz. In ihr kommen die drei wichtigsten »Dinge« vor, die mich als Reisenden bewegen: die Welt, die Sprache, ein naher Mensch.
Ich reiste durch Sinai. Kurze Rast in Musa, einem Nest auf der Strecke. Hier, so heißt es, hat Moses an den Fels geschlagen und Wasser sprudelte. Ich klopfte ebenfalls und ein Beduine mit heißem Tee trat aus dem Schatten. Das war ein gutes Zeichen. Felsen spenden Wasser, Felsen spenden Tee. Ich ahnte in diesem Augenblick nicht, dass sie noch für ganz andere übernatürliche Erscheinungen taugten.
Abends Ankunft in Milga, ich fand ein Restaurant, wusch mir den Wüstendreck aus dem Gesicht und bekam etwas zu essen. Und las. In der Ferne sitzen und lesen, viel inniger konnte es nicht werden. Doch.
Irgendwann nahm mir jemand sacht das Buch aus der Hand, einfach so. Und fragte, ob ich nicht ein preiswertes Hotel wüsste. Leicht irritiert blickte ich auf, nur widerstrebend lässt sich ein notorischer Leser sein Suchtmittel entziehen. Ich sah in das Gesicht einer fremden Frau, die leichtsinnig lächelte. Pretty woman. Sofort dachte ich an einen vor Kurzem
Weitere Kostenlose Bücher