Gebrauchsanweisung für die Welt
balancierten, wollten sie die Masken nicht ablegen. Sie schlemmten und trugen Trauer. Um der Welt – ganz unbewusst wohl – zu zeigen, dass sie die Betroffenheit ernst meinten. Die Miene der Ergriffenheit schmückte sie. Und mir war tatsächlich, als ob ein paar von ihnen beim Verschlucken eines schweren Bissens zwei, drei Tränen abdrückten.
Wenn ein Krokodil einen besonders fetten Brocken verschlingt, treibt es ihm das Wasser aus den Augen. Die sogenannten Krokodilstränen.
Ich habe lange gebraucht, sicher ein paar Dutzend Reisen, bis ich mir selbst auf die Schliche kam. Weil ich mich genau wie jene aufführte, von denen gerade die Rede war. Irgendwann habe ich kapiert, dass meine edle Visage niemandem hilft. Nur mir, dem Edelmann. Dem Menschenfreund. Dem Zartling. So wäre mein moderater Ratschlag an jene, die von der Welt (und sich) etwas wissen wollen: Spar dir den Heiligenschein. Wirf einen klaren festen Blick auf die – oft erbarmungswürdigen – Zustände. Und vergiss die Maske, das Getue, die hohlen Gesten der Erschütterung. Noch nie hat eine Phrase einem Hungerleider den Tag verschönt.
Und lässt sich ein Fremder doch – tief innen, wirklich – anrühren vom Leid eines anderen Fremden, dann wird er Wege, sprich Taten, finden, um es zu lindern. Praktisch, konkret, cool, ohne sentimentales Geschwafel, ohne Pose. Und ohne Herablassung. Einem anderen zu helfen ist eine subtile Angelegenheit. Sie verlangt materielle Mittel und/oder körperlichen Einsatz. Und Herzensbildung.
Das war mein Wetterbericht. Schon überraschend, zu welch hinterlistigen Gedanken sieben Tage Sonnenschein führen können. Aber da ich auch morgen die Eiger-Nordwand nicht besteigen werde, ist es mir egal, ob der Wind von links oder rechts kommt, ob es weißblau wird oder ein Regenschauer niedergeht. Ich weiß, schon mancher Lebenstraum zerbrach, weil es vor der Tür genieselt hat. Doch Reisende träumen nicht, sie gehen los. Was immer die Erde und der Himmel ihnen bietet: Sie sind da.
Der magische Moment: Nordamerika
Auch dieser magische Moment hat mit Musik zu tun. Obwohl ich eher unmusikalisch bin. Meine Liebe zur Gitarre endete klanglos und ich muss mich noch heute anstrengen, fünf richtige Töne in Folge zu singen. Vielleicht gerade deshalb. Man sehnt sich meist nach dem, was einem verschlossen bleibt. Gewiss aber nagt in mir der Neid – als Schreiber – auf Musiker. Denn jeder, der sie hört, versteht sie. In jedem Eck der Welt. Die einzige lingua franca , die funktioniert: Ein (begabter) Wildfremder packt sein Saxofon aus und alle Wildfremden um ihn herum lassen sich ergreifen. Ohne eine Note lesen zu können. Wie ein First-Class-Dessert ziehen die Töne durch ihre Körper.
Das Gleiche passiert beim Anblick eines schönen Gesichts. Weder Musik noch Schönheit müssen übersetzt werden. Die Vehemenz erreicht uns sofort, ohne Aufschub. Mit Sprache funktioniert das nicht. Selbst wenn ich Shakespeare überreden könnte, persönlich seine Sonette vor dem Rathaus von Nowosibirsk aufzusagen: mehr als drei Pensionäre würden bis Mitternacht nicht stehen bleiben. Lasse ich den Dichter entfernen und stelle Eric Clapton auf, dann muss fünfzehn Minuten später die Polizei anrücken, um den Mann vor einem Volksrausch zu schützen. Beide sind Genies, aber das eine Genie, die Sprache, braucht Umwege. Das andere, die Musik, nie und nimmer.
Bei den gelungensten Reisen löst ein Zauber bald einen anderen ab. Wie diesmal. In Chicago, der knapp Drei-Millionen-Stadt am Michigansee, war ich als Glückskind unterwegs. Denn ich wurde für nichts anderes bezahlt, als nach meiner Lieblingsmusik zu suchen: the Blues .
Das klingt frivol, denn diese Musik gehört den Schwarzen, deren Vorfahren – eingenietet in Kisten mit Luftlöchern – von Afrika nach Amerika verfrachtet worden waren. Alles hatten die (weißen) Masters ihnen gestohlen: die Heimat, die Würde, die Freiheit, ja, die Freiheit zu sprechen. Also sangen sie. Und da »blue« nicht nur blau bedeutete, sondern auch die Farbe des Unglücks, des Unheils, des Bösen, sprach einer irgendwann den Satz aus: »I’ve got the blues«, ich bin traurig. Und aus dieser Trauer über das gestohlene Leben entstand ein Weltwunder. Victor Hugo, der dieses Wort im fernen Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts wohl nie gehört hatte, notierte einen Gedanken, der wie maßgeschneidert zu dieser Musik passte: »La mélancholie, c’est le bonheur d’être triste«, die Melancholie ist
Weitere Kostenlose Bücher