Gedenke deiner Taten
Basiert Ihr Roman auf Fakten? Oder handelt es sich um eine frei erfundene Geschichte?«
Kate holte tief Luft. Sie hatte die Frage schon so oft beantwortet, dass sie das Gefühl bekam, die nächsten Sätze einstudiert zu haben oder von einem Blatt abzulesen.
»Meine Großmutter hatte tatsächlich eine Affäre mit Richard Cameron. Aus ihren Tagebüchern und den Aufzeichnungen meiner Tante Caroline erfuhr ich die Einzelheiten. Die Geschichte, die ich aufgeschrieben habe, wurde von dieser Lektüre natürlich beeinflusst. Trotzdem handelt es sich keinesfalls um einen wahrheitsgetreuen Bericht der Liebesgeschichte von Lana Heart und Richard Cameron. Wie es wirklich war, werden wir nie erfahren.«
Das stimmte nicht ganz, aber es war auch nicht vollkommen gelogen. So war es mit Geschichten – Wahrheit und Traum mischten sich, und zu guter Letzt kam etwas völlig Neues, Eigenes heraus. Niemand durfte darüber urteilen.
»Die Familie von Richard Cameron ist anderer Meinung.«
Nun war es an Kate, müde zu lächeln.
»Nun ja, das ist ihr gutes Recht. Da aber beide Beteiligten seit Langem tot sind und es keine Augenzeugen gab, kann ich meine Einschätzung guten Gewissens wiederholen: Wie es wirklich war, werden wir nie erfahren.«
»Was ist mit den Tagebüchern?«
»Leider fielen sie den Flammen zum Opfer, die das Ferienhaus meiner Familie auf Heart Island zerstört haben. Ich hatte sie auf die Insel mitgebracht, um sie meiner Mutter zu zeigen. Leider ist es nie dazu gekommen.«
Die Radiomoderatorin, eine atemberaubend schöne Frau mit alabasterweißer Haut und knallrotem Haar, blitzte Kate aus grünen Katzenaugen an, aber Kate hielt ihrem Blick stand. Bislang war sie fair gewesen und hatte ihre Fragen genau formuliert.
»Manche Leute sprechen von einem praktischen Zufall.«
»Für meine Familie war es eine Tragödie.«
Die Frau überflog ihre Notizen.
»Was, glauben Sie, ist mit Richard Cameron passiert?«
»Ich glaube, er war ein zutiefst unglücklicher Mann, der sein Leben lang gegen ein zweiköpfiges Monster anzukämpfen hatte, gegen Alkohol und Depression. Er hat die Trennung von meiner Großmutter nicht verwinden können und hat den Kampf aufgegeben.«
»Sie glauben, er hat Selbstmord begangen?«
Hatte er das nicht gewissermaßen? Er hatte Lana angegriffen, und sie hatte um ihr Leben gekämpft. Er rutschte aus und stürzte ab. Das hatte Lana geschrieben. Er war stärker als sie und hätte sie ohne Mühe überwältigen können. In Kates Roman setzte die an Richard Cameron angelehnte Figur ihrem Leben freiwillig ein Ende. Während des Kampfes auf dem höchsten Punkt der Insel begreift er, dass er die einzige Frau, die er je geliebt hat, in tödliche Gefahr bringt. Als ihm klar wird, was aus ihm geworden ist, stürzt er sich von den Klippen. Für Kate war diese Version zur Wahrheit geworden. Eine andere hatte sie nicht im Angebot. Lana und Caroline hatten sich ihr anvertraut, und sie hinterging sie nicht, indem sie ihre Geschichte verbreitete. Kate konnte nur für sich sprechen.
»In gewisser Weise schon«, sagte Kate, »absichtlich oder aus Versehen.«
Sie schwiegen. Kate sah, dass die Anruferlämpchen wie verrückt blinkten.
»Die Nachkommen von Richard Cameron behaupten, Ihre Großeltern hätten die Insel besucht, kurz bevor der Leichnam des Schriftstellers entdeckt wurde«, sagte die Moderatorin. »Sie glauben, er sei ermordet worden, und sie vermuten, dass Ihre Großeltern in seinen Tod verwickelt waren.«
»Für diese Theorie gibt es absolut keine Beweise«, sagte Kate. Auch diesen Satz hatte sie so oft wiederholt, dass er ihr so leicht über die Lippen kam wie ein geläufiges Sprichwort. »Es sind Gerüchte, die jeder Grundlage entbehren.«
»Nun denn. Liebe Kate Burke, unsere Zeit ist um. Danke, dass Sie mit uns über Ihren neuen Roman Die Insel gesprochen haben. Ich habe das Buch verschlungen und kenne viele Leserinnen, denen es ähnlich erging. Mrs. Burke können Sie heute Abend um acht bei einer Signierstunde bei Powell’s hier in Portland treffen. Lassen Sie sich das nicht entgehen. Hier ist KXL Radio, ich bin Beth Grayson, und Sie hörten unser Buchgespräch .
Als Kate das Studiogebäude verließ und in den kalten Regen hinaustrat, wartete der Wagen bereits auf sie. Sie war müde, weil sie schon so lange unterwegs war, um Werbung für ihr Buch zu machen. Sebastian hatte sich immer über dieses tote Rauschen im Kopf beschwert, das sich einstellte, wenn man zu viel über sich selbst und seine
Weitere Kostenlose Bücher