Gedenke deiner Taten
dorthin. Und es stimmt, immerhin wurde sie auf der Insel gezeugt. Ich versuche, nicht mehr daran zu denken. Falls Jack je einen Verdacht hegte, hat er ihn nie ausgesprochen. Wir waren geübt darin, alles Unangenehme zu verdrängen und so zu tun, als sei nichts passiert. Die Wahrheit hätte niemandem etwas genützt.
Richard kam bei einem Unfall ums Leben. Vielleicht war es Notwehr. Immer schon war es zwischen uns zu heftigen Streitereien gekommen, auch lange bevor ich Jack kennenlernte. Wenn wir zusammen waren, brannte die Luft. Unsere zärtliche Leidenschaft konnte innerhalb von Minuten in rohe Gewalt umschlagen. Ich wollte abreisen, ich wollte ihn mitnehmen. Er packte mich beim Arm und flehte mich an, bei ihm zu bleiben. Er wurde wütend und behauptete, ich hätte ihn nie geliebt. Er sagte, ich sei schlimmer als alle Huren und Hexen aus seinen Büchern. Das habe ich nie vergessen. Er sagte: »Du hast mir alles genommen, und nun lässt du mich einsam und schmachtend zurück.« Im Laufe der Jahre musste ich einsehen, dass es stimmte.
Ich riss mich los, doch er verfolgte mich. Ich flüchtete mich auf den Aussichtsfelsen. Ich habe mich so oft gefragt, warum ich nicht zum Boot gelaufen bin. Die Felsen waren ungewohnt rutschig, und mehrfach wäre ich fast abgestürzt. Als wir den höchsten Punkt erreicht hatten, saß ich in der Falle.
»Und jetzt?«, fragte er mich.
Unter uns lag der schwarze, stille See. Über uns stand der weiße Vollmond, dünne Wolkenfetzen zogen über den Nachthimmel.
»Komm mit mir«, sagte ich. »Du brauchst Hilfe.«
Da wurde er furchtbar wütend und fiel über mich her. Ich hätte mich nicht mehr gewehrt, aber ich musste an Jack, Caroline, Birdie und Gene denken. Sie brauchten mich, und ich brauchte sie. Richard verkörperte alles Dunkle in mir, sie waren das Licht. Ich hatte mich entschieden. Ich kämpfte um mein Leben. Richard strauchelte, rutschte ab und stürzte vom Aussichtsfelsen in den See. Hätte ich hinterherspringen und ihn aus dem schwarzen Eiswasser ziehen sollen? Ja, aber ich konnte nicht.
Ich schrie seinen Namen, und wie ein Messer zerteilte mein gellender Schrei die Winterluft. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort oben ausharrte. Nach einer Weile hörte ich ein Boot. Wie durch ein Wunder war Jack auf einmal da. Ich beichtete ihm alles. Wir ließen Heart Island und Richard zurück und kamen überein, nicht wieder von jenem Tag zu sprechen. Im Frühjahr wurde seine Leiche gefunden. Der arme Richard, jeder wusste, dass er ein Wrack gewesen war, eine von Alkohol, Depressionen und bösen Dämonen gequälte Seele. Sein Ende überraschte keinen.
Falls irgendjemand uns auf der Insel gesehen hat, so hat er geschwiegen. Zu keinem Zeitpunkt fiel ein Verdacht auf uns. Man könnte meinen, die Schuldgefühle hätten uns belastet, aber ich muss zugeben, dass es anders kam. Ich kann nur für mich sprechen, wenn ich sage, dass meine Liebe zu Richard wie eine schreckliche Krankheit war und ich in jener dramatischen Nacht auf Heart Island geheilt wurde. Es ist beschämend, aber es ist die Wahrheit. Niemals durfte ich so ehrlich sein, wie ich es in diesem Moment bin. Wir hatten uns im Kindesalter auf der Insel kennengelernt, vor einer halben Ewigkeit. Unsere Liebe hatte dort das Licht der Welt erblickt. Es ist nur folgerichtig, dass sie am selben Ort starb.
»Wo liegt eigentlich der Unterschied zwischen Autobiografie und Roman? Ich meine, ist nicht jeder Roman ein Stück weit autobiografisch? Und ist nicht jede Biografie ein fiktionales Werk? Die Erinnerung ist biegsam. Nie werden sich zwei Menschen an einen bestimmten Moment auf exakt dieselbe Art erinnern. Würden Sie nicht auch sagen, dass unser eigenes Leben notwendigerweise geschönt ist?«
Die Radiomoderatorin versteckte sich hinter einem enorm großen grauen Mikrofon. Die Regler, vor denen sie saß, leuchteten rot und grün. Kate sah unzählige Knöpfe und Schalter.
»Nun ja«, sagte sie. Sie hatte inzwischen gelernt, sich mit der Antwort Zeit zu lassen. »Ich glaube, der Unterschied liegt darin, was Sie für sich in Anspruch nehmen. Wie ehrlich ist man sich selbst und den anderen gegenüber, wenn es um die eigene Literatur geht? Versteckt man sich hinter der Fiktion, weil man nicht den Mut hat, bestimmte Wahrheiten auszusprechen? Möchte man eine idealisierte Version des eigenen Lebens als die einzig richtige ausgeben? Ich würde da sehr genau unterscheiden.«
Die Interviewerin lächelte höflich.
»Kommen wir zu Ihrem Buch.
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