Gefaehrlich schoener Fremder
anderer Leute Sachen durchwühlen würde, auf den Gedanken wäre Emily nie gekommen.
Der Schatten näherte sich dem Schrankraum, und Emily fühlte, wie sich der kräftige Körper hinter ihr anspannte. O nein, dachte sie voller Entsetzen, womöglich muss Mrs. Billings jetzt für ihr Herumschnüffeln mit dem Leben bezahlen.
„Sind Sie es, Dorothea? Ich bin's: Beatrice."
Als Emily die hohe Stimme aus ihrem Wohnzimmer hörte, erschrak sie von neuem. Es war also gar nicht Beatrice Billings, die ihr Haus durchsuchte, sondern Dorothea Scaffer, die Nachbarin von der gegenüberliegenden Straßenseite.
Emily hätte fast laut nach Luft geschnappt, als sie die so kultivierte, so anständige Dorothea Scaffer einen derben Fluch ausstoßen hörte. „Ich bin im Bad, Bea!" rief Mrs. Scaffer, während ihr Schatten sich von der Schranktür entfernte.
„Ich dachte, Emily hätte hier ein Fenster offengelassen!"
Obwohl Dorothea Scaffer ins Wohnzimmer hinüberging, ließ die hochkonzentrierte Angespanntheit, die Bereitschaft zum Sprung, in dem Mann nicht nach.
„Vielen Dank, dass Sie für mich nach den Pflanzen unserer lieben Emily sehen, Dorothea."
„Das mache ich doch gerne, Bea."
„Ich habe gerade gesehen, dass unsere liebe Nachbarin Emily die Garagentür offengelassen hat. Hier würde zwar niemand ihren Wagen stehlen, aber..."
„Ihren Wagen?" wurde sie scharf von Dorothea unterbrochen. „Sie sagten doch, sie sei im Urlaub?"
„Ja, natürlich. Wahrscheinlich hat der freundlich Mr. Conway aus dem Laden sie zum Flughafen gefahren. Tatsächlich habe ich mich schon gefragt, ob er vielleicht mit ihr fliegen würde."
„Na, hören Sie mal, Bea! Unsere Emily und mit einem Mann verreisen!
Niemals!"
Emilys Wangen brannten vor Scham, als sie den so wenig schmeichelhaften Tratsch ihrer Nachbarinnen über sich mit anhören musste.
„Ich wünsche ihr, dass sie jemanden findet", sagte Beatrice. „Sie ist einfach zuviel allein. Sie geht ja kaum einmal aus. Obwohl - überraschend ist es nicht, bei den Eltern, die sie hat."
„Was ist denn mit ihren Eltern?" fragte Dorothea.
„Zwei freudlosere Menschen werden Sie auf der ganzen Welt nicht finden.
Sicher, der Vater ist Geistlicher, aber ich glaube nicht, dass der Schöpfungsplan für eine so entzückende junge Frau vorgesehen hat, nur zu arbeiten und sich nie zu vergnügen. Es ist wirklich eine Schande. Die liebe Emily hat bisher noch nie Urlaub gemacht, müssen Sie wissen", vertraute Mrs. Billings ihrer Nachbarin eifrig an.
Emily wäre am liebsten im Boden versunken. Schlimm genug, dass sie zuhören musste, wie ihre Nachbarinnen ungeniert ihr Leben unter die Lupe nahmen. Aber dass dieser Fremde auch noch jedes Wort mitbekam, war unerträglich. Das letzte, was sie wollte oder brauchen konnte, war, bemitleidet zu werden.
„Ich muss jetzt wieder nach Hause, meine Arthritis bringt mich heute fast um", klagte Mrs. Billings.
Emily hörte, wie die beiden Frauen ihr Haus verließen und wie kurz darauf die Garagentür geschlossen wurde.
Der Fremde hielt Emily noch mehrere Minuten an sich gedrückt, bevor er sie aus dem Schrankraum zog und etwas unsanft auf den Rand ihres Bettes setzte. Sie glaubte, sie hörte ihn etwas murmeln über „nette Nachbarn", dann fragte er: „Wer sonst könnte noch kommen und in Ihrem Haus herumschnüffeln?"
„Niemand."
„Und alle glauben, dass Sie im Urlaub sind?"
„Ja."
Auch Logan hatte gedacht, Emilys Haus sei leer. Darum war er ja hier eingedrungen, als er gespürt hatte, dass irgend etwas mit dem Scaffer-Haus nicht stimmte. Er wollte unbemerkt auf Jamies Ankunft warten, mit dem dort ein Treffen verabredet war.
Weil ihm ein Fehler unterlaufen war, ließ Logan seinem Ärger freien Lauf.
„Und warum sind Sie nicht gefahren?"
„Es gab ein Problem in meinem Geschäft, das ich erst lösen musste."
„Was ist mit Ihren Eltern? Könnten die vielleicht noch auftauchen?"
„Nein. Die kommen nur, wenn sie eingeladen sind." Emilys knapper, abweisender Tonfall verriet Logan, dass solche Einladungen Seltenheitswert haben mussten.
„Und dieser Conway, von dem die Rede war? Glaubt der auch, dass Sie im Urlaub sind?"
Zu Logans Überraschung antwortete Emily ehrlich mit „Ja".
Logan kehrte zu seinem Beobachtungsposten am Fenster zurück, wobei er Emily, die wie ein Häufchen Elend auf dem Bett kauerte, im Auge behielt.
Eigentlich eine unnötige Vorsicht, denn er war ganz sicher, dass sie keinen weiteren Fluchtversuch unternehmen würde.
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