Gefaehrliche Schatten
kennenlernte, ‚Neue Liebe‘. Das Lied bedeutete ihr viel. Sie hoffte, dass der emotionale Input ihr beim Spielen auf dem Kanun behilflich sein würde. Sie hatte geübt und geübt, nicht immer mit guten Ergebnissen.
Also, jetzt würde es spannend werden.
Sie saß Douglas gegenüber, der geduldig wartete, die Augen geschlossen hatte und hin und wieder einen Schluck Retsina trank. Das war eine der vielen Eigenschaften, die sie an ihm liebte. Seine Geduld. Sie hätte jedermanns Geduld in diesen letzten vier Monaten auf die Probe gestellt, als sogar Gehen am Anfang zu viel für sie war. Er war die meiste Zeit an ihrer Seite gewesen, absolut geduldig, als hätte er nichts Besseres zu tun, als ihr zu helfen, Dinge wieder zu erlernen, die eine Vierjährige beherrschte.
Allegra setzte sich im Schneidersitz, den Kanun auf dem Schoß. Er war so viel intimer als die Harfe. Sie hatte das Gefühl, etwas zu spielen, das ein Teil von ihr war.
Bitte lieber Gott, lass mich das nicht vermasseln. Sie sandte dieses Gebet in Gedanken hinauf zu dem Gott aller ehemals blinden Harfenspieler. Sie hatte keine Ahnung, warum das so wichtig für sie war, aber so war es. Sie musste das machen, sie musste einfach. Sie musste gut spielen, sie musste es für Douglas tun. Um ihm zu danken für alles, was er für sie tat.
Das Instrument war gestimmt. Sie schob die Fingerpicks über, schlug kurz an.
Douglas hatte das nicht erwartet. Er setzte sich auf, als er die Noten erklingen hörte.
Okay, je länger sie zögerte, desto schwieriger wurde es.
Jetzt.
Allegra schloss die Augen und begann zu spielen. Sie spielte das ganze Lied zuerst nur instrumental. Sie hatte es als Ballade geschrieben, einfach, aber mit einem komplexen Kontrapunkt. Der Kanun ermöglichte beides – die hohen Noten der Melodie und die tiefere, zugrundeliegende kontrapunktische Musik.
Sie erinnerte sich an jeden Augenblick des Komponierens. Sie hatte eben Douglas bei einer Präsentation von antikem Schmuck getroffen. Ihre Freundin Suzanne Huntington, die Frau von Douglas‘ Geschäftspartner, den seine Freunde mysteriöserweise Midnight nannten, hatte die Schaukästen entworfen. Sie hatte Allegra gebeten, bei der Eröffnung zu spielen. Seit der Nacht, in der ihr Vater ermordet und sie so brutal zusammengeschlagen worden war, dass sie das Augenlicht verlor, hatte Allegra nicht mehr gespielt.
Sie hatte sich fehl am Platze gefühlt, traurig und verloren, als sie Douglas traf. Es war seine Stimme – dieser prächtige tiefe Bass – von der sie sich zuerst angezogen fühlte. Dann wurde die Juwelen-Ausstellung von bewaffneten Dieben überfallen und Douglas mit seinem Freund Midnight und einem weiteren Freund, dem Lieutenant Bud Morrison von der Mordkommission, der jetzt mit ihrer Freundin Claire verheiratet war, hatten die Lage gerettet.
Douglas war mehr als tapfer gewesen und hatte dann darauf bestanden, sie nach Hause zu fahren. Sie hatten sich die ganze Nacht geliebt – es war das erste Mal, seit sie ihr Augenlicht verloren hatte, dass sie glücklich war. Sie fühlte sich, nachdem sie zusammengeschlagen worden war, nicht mehr imstande zu komponieren. Aber nach jener magischen Nacht, der schönsten Nacht ihres Lebens, hatte sie begonnen ‚Neue Liebe‘ zu komponieren, während Douglas draußen im Schnee laufen war. Denn so etwas Besonderes wie die Nacht, die sie in seinen Armen verbracht hatte, musste gefeiert werden.
Die Musik war praktisch aus ihrer Seele hervorgequollen, ihr Glücksgefühl in Notenschrift.
All dies kam ihr in den Sinn, während sie spielte. Die unbeschreibliche Freude, die sie mit ihm empfunden hatte, die Überraschung, dass solche Freude in ihrer Welt der Blindheit existierte. Das Wunder aber war, dass dieses ursprüngliche Glück Wirklichkeit war und mit jedem Tag, den sie mit Douglas verbrachte, wuchs. Sie musste das von Anfang an gewusst haben, weil ‚Neue Liebe‘ es in sich hatte. Leicht ganz oben, tiefgründig in den Basstönen.
Sie versank in der Musik, die Hände bewegten sich jetzt von alleine über die Saiten. Die Saiten waren nicht mehr einzelne Teile, sondern Teil eines Ganzen, wie ein Wandteppich. Sie wiegte sich ein wenig hin und her, während sie spielte und als die erste instrumentelle Wiedergabe des Stücks beendet war, sang sie, ohne zu überlegen, ohne geprobt zu haben.
Von den Hunderten Liedern, die sie in Konzertsälen und Tonstudios gesungen hatte, viele davon von ihr komponiert, lag ihr dieses Lied am meisten am Herzen. Sie
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