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Quade 03 - Suesse Annie, Wildes Herz

Quade 03 - Suesse Annie, Wildes Herz

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Eins
    St. James Keep, Bavia, 1895
    »Was zum Teufel macht sie bloß dort
oben?« fragte Rafael St. James, Prinz von Bavia, und beugte sich aus seinem
Fenster, so weit er konnte, ohne gleich kopfüber in den Burggraben zu stürzen.
    Ein leichter Nieselregen fiel an jenem
düsteren Abend im späten Mai, aber Rafael sah dennoch alles viel zu klar. Annie
Trevarren, ein behendes, barfüßiges Wesen in Rehlederhosen und einem weiten
Hemd, das aus seiner eigenen Garderobe hätte stammen können, umklammerte das
Gesicht eines Wasserspeiers auf dem zerfallenden Wehrgang des Südturms.
    Es versetzte Rafael einen Stich, als
er sie dort sah, eine schmerzhafte Empfindung, die aus etwas anderem herrührte
als der bloßen Sorge um ihre Sicherheit.
    Neben ihm rang Phaedra, seine
achtzehnjährige Schwester, bestürzt die Hände. »Annie wollte einen guten
Ausblick auf den See«, erklärte sie, als sei dies Grund genug, Leib und Leben zu riskieren. »Sei nicht
böse, Rafael, sie kann nichts für ihre wagemutige Natur - Abenteuerlust liegt
bei den Trevarrens in der Familie ...«
    Rafael verfluchte Miss Annie
Trevarren und ihre »wagemutige Natur«, als er sich vom Fenster abwandte und
durch den Raum auf die Tür zuhastete, die noch offenstand nach Phaedras
überstürztem Eintritt. So schnell es ihre weiten . Röcke erlaubten, eilte die
Prinzessin ihrem Bruder nach und folgte ihm durch die Halle zu einer Treppe im
südlichsten Teil des Burgfrieds.
    »Annie ist oft sehr impulsiv - aber
später bereut sie es und entschuldigt sich für ihre Irrtümer, und in anderer
Beziehung kann sie ungeheuer praktisch sein ...«
    Rafael ignorierte die atemlosen
Beteuerungen seiner Schwester und lief, so schnell er konnte, in Gedanken schon
bei Annie. Halt durch, du kleine Närrin! Halt dich gut fest, bis ich bei dir
bin!
    Sein Leibwächter und Jugendfreund,
Edmund Barrett, erreichte die Treppe im gleichen Augenblick wie der Prinz. Dem
entsetzten Ausdruck nach zu urteilen, den Barretts sonst eher
undurchdringliches Gesicht zur Schau trug, war auch er über Miss Trevarrens
kritische Lage informiert oder hatte sie vielleicht sogar selbst auf dem
Wehrgang entdeckt.
    »Überlaßt das mir, Hoheit ...«
begann er und benutzte, wie immer in kritischen Situationen, die formelle
Anrede, die dem Prinzen gebührte.
    Rafael schüttelte den Kopf und
stürmte an Barrett vorbei die Wendeltreppe hinauf. Er war noch immer Herr auf
St. James Keep, wie dürftig seine Herrschaft über den Rest des Landes auch sein
mochte, und deshalb verantwortlich für die Sicherheit jener, die sich innerhalb
der alten Mauern seiner Burg befanden - ganz zu schweigen davon, daß die
Eltern des jungen Mädchens, Patrick und Charlotte Trevarren, zu seinen
geschätzten Freunden gehörten. Was sollte er ihnen sagen, falls Annie stürzte -
daß sie noch vier andere Töchter hatten und deshalb um ihre älteste nicht zu
trauern brauchten? Dieser Wildfang war Gast in seinem Haus, und es war seine Aufgabe, auf sie aufzupassen.
    Die Tür am Ende der Wendeltreppe war
offen, und Rafael trat vorsichtig über die Schwelle. Annie stand mehrere Meter
entfernt von ihm auf der anderen Seite einer Kluft im Wehrgang und klammerte
sich mit beiden Armen an einen Wasserspeier. Ihr rotblondes Haar fiel ihr
offen auf den Rücken und kräuselte sich in der feuchten Luft.
    »Hab' keine Angst, Annie!« rief
Phaedra ihr zu. »Rafael wird dich retten.«
    »Sei still und bleib zurück«, befahl
dieser, während er besorgt den Zustand des Wehrgangs abschätzte. Der Regen, der
nach Staub roch, kühlte seine Haut. Zu Annie sagte er: »Bewegen Sie sich
nicht!«
    Anscheinend hatte das Schweizer
Internat für Höhere Töchter in St. Apasia, wo Annie und Phaedra die letzten
Jahre verbracht hatten, um Manieren und Disziplin zu lernen, wenigstens zu
einem kleinen Teil seinen Zweck erreicht. Selbst in dieser kritischen Lage -
und kritisch war sie, denn das Mädchen stand auf losen Steinen -
lächelte Annie tapfer und nickte, obwohl sie leichenblaß war und zitterte.
    »Bestimmt nicht«, versicherte sie
erstaunlich gleichmütig.
    Rafael gestattete sich einen Blick
nach unten. Der gepflasterte Boden des Hofs schien in der Dämmerung zu verschwimmen,
und eine Gruppe von Zuschauern hatte sich versammelt und erhellte mit Fackeln
die zunehmende Dunkelheit. Der Prinz schloß für einen Moment die Augen,
schickte ein stummes Gebet zu dem Gott, der ihn schon vor langer Zeit im Stich gelassen
hatte, und trat vorsichtig auf die

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