Gefaehrliche Verlockung (Gesamtausgabe)
Vergangenheit stellst, Emma. Bitte. Wie lange ist es her?“
Ich schließe die Augen und stöhne innerlich. Um Himmels willen. Ich will hier nicht sein, ich will hier weg und vergessen ...
„Fünf Jahre. Ungefähr“, murmele ich, mehr zu mir selbst. Meine Finger verknoten sich, unwillkürlich habe ich Jasons Hand abgestreift und zupfe an meiner Nagelhaut.
„Wir können die Erinnerungen nicht besiegen. Sie besitzen uns. Entweder, wir stellen uns ihnen und verwandeln sie in Erinnerungen, mit denen wir leben können, oder wir lassen uns von ihnen zerfressen. Manche Erinnerungen leben nur in unserer Fantasie weiter und verändern sich dort, werden zu Monstern, die sie nie waren. Wenn wir sie zulassen, können wir sie verändern. Oder zu dem reduzieren, was sie wirklich sind. Es ist deine Entscheidung, Emma, aber ich möchte dir dabei helfen. Jetzt und immer.“
Meine Hände zittern, mir wird plötzlich eiskalt.
„Meinst du das wirklich?“
Jason sieht mir tief in die Augen und nickt. Diese verdammten, dunkelblauen Augen, in denen manchmal Sterne tanzen und manchmal finstere Abgründe lauern. Sein Gesicht ist weich, trotzdem unnachgiebig. Vielleicht hat er Recht? Er hat es geschafft, also kann ich es auch schaffen. Ich kann stark sein, ich muss es nur zulassen.
„Also gut.“
Ich erkenne meine eigene Stimme kaum wieder, so leise und verletzlich klingt sie. Langsam klettere ich aus dem Auto und hoffe inständig, dass er mich begleiten wird. Tatsächlich legt sich kurz darauf seine starke Hand in meine und hält mich fest. Ganz fest. Ich drücke zu, gemeinsam gehen wir auf das große Portal zu.
Irgendwo im Haus schreit eine hysterische Frau, ich höre Rufe, ein lautes, männliches Lachen. Ich habe Angst. Angst vor der Wahrheit, Angst vor der Vergangenheit. Alles kommt in mir hoch, alles spült über mich hinweg wie eine riesige Welle. Der Schmerz, die Enttäuschung, die Gewissheit, schuld zu sein an all diesem Elend.
Jason stützt mich, als wir die Treppe hinaufgehen und das Haus betreten. Das Haus des Grauens.
Er spricht für mich am Empfang. Ich stehe da, die Hände ineinander verknotet wie ein Schulmädchen, und starre auf den bunten Teppich unter meinen Füßen. In meinem Kopf herrscht ein riesiges Durcheinander, die Gedanken purzeln umher und lassen sich nicht einfangen. Dann nimmt er mich mit, und wir folgen Hand in Hand einer jungen Frau in einem weißen Kittel zum Fahrstuhl.
„Vierte Etage, Zimmer 403“, sagt sie und drückt auf einen Knopf, bevor sie sich lächelnd zurückzieht. Die Türen schließen sich mit einem leisen Zischen.
Wir sagen nichts, aber wir sehen uns an. Unsere Augen verhaken sich ineinander, bis der Aufzug stehenbleibt und uns in einen grauen Flur spuckt, dessen Wände mit kindlich wirkenden Zeichnungen geschmückt sind.
Vor der Tür atme ich tief ein. Mein ganzer Körper zittert vor Anspannung. Bevor ich öffnen kann, ist Jason da, legt seine Arme um meine Schultern und drückt mich an sich. Mein Herz klopft so heftig in der Brust, dass er es spüren muss. Dann sind seine Lippen auf mir, weich und warm. Ich schließe die Augen, als er mich küsst. Der Kuss ist frei von Gier und Lust, dafür voller Zärtlichkeit. Vertrauen.
Oh Gott, so fühlt es sich also an. So fühlt sich an, wovor ich jahrelang weggelaufen bin, was ich nie zulassen wollte. Jetzt bin ich mir sicher, dass es so sein muss, dass es richtig ist. Atemlos lege ich das Gesicht gegen seine Brust, seine Hand gleitet in mein Haar und streichelt mich. Ich kann beinahe spüren, wie mein Herz sich in mir weitet, die Flügel spreizt und damit flattert.
„Ich bin da, wenn du mich willst“, flüstert er. Eine Träne löst sich aus meinen brennenden Augen und rinnt mir über die Wange. Oh ja. Oh Gott, ja. Ich will dich, Jason. Mit all deinen dunklen Flecken auf der Seele, mit all deinen seltsamen Vorlieben, wenn es sein muss. Weil ich weiß, dass unter den Flecken etwas Weißes ist, das ich lieben kann. Wenn ich es zulasse.
„Geh nur“, sagt er, und als ich die Türklinke herunterdrücke, beruhigt sich mein rasendes Herz langsam.
Sie liegt in einem weißen Bett am Fenster. Das Zimmer wirkt nicht wie ein Krankenhauszimmer, obwohl Weiß die dominierende Farbe ist. Bunte Bilder hängen an den Wänden, geblümte Vorhänge schützen vor der Sonne, die ihre Strahlen reinschicken will.
„Hallo, Mum“, flüstere ich, doch die Worte wären nicht nötig gewesen. Ihre trüben Augen flackern plötzlich, als sie mich erkennt.
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