Gefallene Engel
der Hei-wie-geht’s- und Scheiß-drauf-Charmeur Helge, der als erster von uns denselben Weg ging, als er während des Löschens in den Schiffsladeraum stürzte, in Liverpool, irgendwann in der Osterwoche 1964. Und dann der stille, dunkelhaarige Arvid, so nachdenklich, daß er mit sechsunddreißig Jahren an Krebs starb. Da war Pelle, der in derselben Straße wie ich wohnte und damals mein bester Freund war. Zusammen gründeten wir alles von Geheimclubs bis zu Detektivbüros, von Straßenschützenkorps bis zu Fahrradclubs, bis uns die beruflichen Karrieren unserer Väter einholten. Pelle und seine Familie zogen nach Fredrikstad, und wir sahen uns nie wieder. Es gab noch mindestens zwanzig andere, große und kleine, rothaarige und blonde, sommersprossige und blasse. Wenn wir uns zum Klassenfoto aufstellten, sahen wir aus wie jede andere x-beliebige Jungenklasse zu der Zeit: in Strickjacken, Pullis und Windjacken, in Knickerbockern, die unsere Mütter aus den abgelegten Sonntagshosen unserer Väter aus den dreißiger Jahren genäht hatten, und zu Ehren des Fotografen standen wir mit Strickmützen in der Hand, diesen blauen Strickmützen, mit den blauweißen Streifen an der Kante, vom Waschen verfärbt, oder grauen, einfarbigen Mützen, ohne die im Streit abgerissenen Pudel. Niemand hatte schwarze Kreuze über unsere Köpfe gezeichnet. Niemand hatte uns gesagt, wann wir sterben würden.
Die Gemeinde sang: » Führ mildes Licht durch Finsternis, führ mich. «Ich erinnerte mich aus früheren Musikstunden an das Lied. » Ich geh’ in dunkler Nacht – weit von zu Hause – führ du, führ du mich an. «
Neben mir sang Jakob mit einem hohen, klaren Tenor. » Geleite meinen Fuß, seh’ ich auch nicht den Weg, so weit und fern, ein Schritt ist mir genug. «
In der ersten Reihe schluchzte jemand leise.
Wenn einer von uns starb, dann war es, als säßen wir immer noch im selben Klassenzimmer, irgendwann nach der Hälfte der Schulzeit, in der fünften oder sechsten Klasse. Noch saßen die meisten von uns an ihren Pulten. Die Plätze von Helge und Arild waren schon seit mehreren Jahren leer. Jetzt war auch Jan Petter aufgestanden und rausgegangen. – Einer nach dem anderen wurde ausgemustert, bis alle Plätze leer waren und der große Oberlehrer kam und einige von uns ganz nach oben in den Zeichensaal schickte, und den Rest in den Heizungsraum im Keller.
Der junge Pfarrer sprach. Es wurde wieder gesungen: » Die Liebe Gottes sprudelt frisch, wie eine Quelle rein. «Der Gesang brachte mich zurück in die Zeit, als Rebecca und ich zusammen auf der Empore des Bethauses gesessen hatten, wo ihr Vater, der Laienprediger, mit bebender Stimme von Erleuchtung und Verdammnis gesprochen hatte. Rebecca, die in meinem Leben gekommen und gegangen war, zu- und wieder weggezogen, seit ich vier war und bis über zwanzig. Die ich sogar mit offenen Augen vor mir sehen konnte, mit fünf Jahren, in einer Strickjacke mit Zinnknöpfen, bis sie mit achtzehn Jahren einfach dasaß und auf mich wartete, während ich mich vorbeugte und sie vorsichtig küßte. » Bleibt in der Liebe, und ihr habt Gottes Frieden, denn Gott selbst ist die Liebe. «
Der Sarg sank hinab, und der Pfarrer sprach: »Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du werden, aus Erde wirst du wieder auferstehen.« Drei Schaufeln Erde fielen mit einem dumpfen Laut auf Jan Petters Sarg. Jetzt klang leises Weinen aus der ersten Reihe. Schultern zuckten, und jemand murmelte leise etwas vor sich hin.
»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«
Wir sangen Lieblich ist des Daseins Wonne. Der Soloviolinist spielte In einsamen Stunden von Ole Bull. Jan Petters Witwe und die beiden Kinder waren vorn und warfen jeder eine Rose auf den herabgesenkten Sarg, bevor sie hinausgingen in das vestländische Winterwetter.
Wir anderen folgten, langsamen Schrittes.
Ich blieb ein paar Sekunden vor dem Sarg stehen. Die Tür zum Korridor schloß sich hinter Jan Petter. Bald würde es schellen.
Die Frage, die du dir unwillkürlich stelltest, war: Wer wird der nächste sein? Bist vielleicht du an der Reihe, das nächste Mal?
So ist das. Man wußte nie, wann man zum Schulzahnarzt gerufen wurde. Und man weiß nie, wann man sterben muß.
2
Vor der Kapelle blieben wir stehen. Keiner von uns sah den anderen direkt an, und keiner wollte die Initiative ergreifen und aufbrechen. Am Ausgang stand Jan Petters Witwe und nahm mit mattem Händedruck die Kondolenzen der letzten
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