Gefallene Engel
1
Die Beerdigung fand an einem Freitag statt. Es war der zehnte Tag im Dezember und die Luft war grau von Schneeregen.
Ich traf Jakob Aasen vor der Kapelle. Zuerst erkannte ich ihn fast nicht wieder. Er hatte sich einen Bart stehen lassen, und das dunkle, dichtgelockte Haar hatte graue Strähnen.
Einen Augenblick standen wir da und sahen einander an. Dann lächelte er vorsichtig, und ich nickte, als eine Art Bestätigung.
»Varg?«
Ich nickte. »Jakob …«
Wir gaben uns die Hand.
»Wie lange mag es her sein, daß wir …«
Ich hob die Schultern. »1965.«
»Ja, aber – wir müssen uns seitdem doch mal gesehen haben?«
»Ein paarmal auf der Straße, vielleicht. Zufällig. – Warst du die ganze Zeit in der Stadt?«
»Mehr oder weniger. Und du?«
»Auch, jedenfalls seit 1970.«
»Sechzehn Jahre – und dann sind wir uns kaum begegnet.«
»Wie viele andere aus der Klasse hast du getroffen?«
Er sah sich um. »Tja, gute Frage.«
»So ist das eben. Wir trampeln uns Pfade und folgen ihnen, zum Wasserloch und zurück, Jahr für Jahr. Du kannst ein ganzes Leben in Bergen verbringen, ohne einem Klassenkameraden zu begegnen, der zwei Straßenecken weiter wohnt. Er geht seinen eigenen Weg zur Arbeit. Und du deinen. Und sie kreuzen sich nie.«
Er lächelte schief. Wieder sah er sich um. »Es ist traurig mit Jan Petter. Glaubst du, es kommt jemand von den anderen?«
»Paul Finckel kämpft sich da unten den Berg rauf.«
»Der Paul? Ist das da der Paul?«
»Mhm.«
Wir standen da und sahen auf Paul Finckel, der seinen dicken, bleichen Körper vom Mølledalsvei den Berg hinauf zur Kapelle schleppte.
»Er ist doch Journalist, oder?«
»Stimmt. Und er ist auch nicht gerade jünger geworden.«
Er sah mich aus den Augenwinkeln an. »Nein?« Dann nickte er. »Doch, die Jahre gehen nicht spurlos an einem vorbei.«
Ich betrachte ihn. Sein Nacken war gebeugt, und das runde Cherubsgesicht war sowohl grauer als auch schwerer, als ich es in Erinnerung hatte. Aber die lebhaften braunen Augen erkannte ich wieder. Sie waren noch genau dieselben, munter und melancholisch zugleich.
Die Jahre hinterlassen ihre Spuren bei uns allen. Die Furchen in meinem Gesicht waren in diesem Jahr noch tiefer geworden. Nach jeder Saison erntet dein Gesicht neue Trauer und Sorgen, und der gute, alte Bauer Zeit muß mit jedem Jahr ein wenig tiefer pflügen.
»Und was treibst du so, Varg? Ich meine, ich hätte mal gehört …«
»Du hast sicher richtig gehört. Ich bin so eine Art – privater Ermittler.«
Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Tja, wie wenig man doch weiß. Darüber, was aus den Leuten so wird, meine ich.«
»Tjaja. Und du?«
»Ich arbeite als Organist. Und dann komponiere ich ein bißchen.«
»Als Organist? In der Kirche?«
Er nickte. »In einer Kirche.«
»Du hast recht. Was weiß man schon? – Du hast den Rock also hinter dir gelassen, sozusagen?«
Ein trauriges Lächeln landete auf seinem Mund, flog aber sofort wieder davon. »Ja, das stimmt wohl.«
Paul Finckel hatte uns erreicht. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn mit einem Taschentuch, das umfangreich genug war, um mehre lokale Korruptionsskandale zu verbergen. Er trug eine aufgeblasene, dunkelblaue Daunenjacke, die den Eindruck erweckte, als würde er jeden Augenblick abheben. Wir waren alle ganz nach unserem Charakter gekleidet. Jakob trug eine nüchterne, hellbraune Trachtenjacke aus Shetlandwolle. Ich selbst trug meinen neusten Wintermantel, den von 1972.
Finckel grüßte. »He, Varg. Eins hab’ ich mich schon immer gefragt. Warum setzen sie die Kapellen in diesem Land immer auf Bergspitzen?«
Ich blickte an Ulriken hinauf, der sich noch sechshundert Meter über uns erhob. »Die Spitze ist da oben, Paul.«
»Es kommt einem jedenfalls so vor.« Er sah zu Jakob. Dann dämmerte es ihm langsam. »Jakob? Jakob Aasen! Menschdasgibtsdochnicht! Seit wann hast du denn so ’nen Urwald im Gesicht?«
Jakob grinste und sah sich um. »Schscht! Ich bin hier in geheimer Mission!«
Finckel schob die Unterlippe vor: »Verstehe. Der Gesandte der Harfenjungs?«
»Genau«, sagte Jakob, während das Lächeln langsam erstarb.
»Und was ist mit Johnny? Kommt er nicht?«
»Keine Ahnung. Ich hab’ ihn – ach, ewig nicht mehr gesehen. Außerdem war der Johnny nie jemand, der zu Beerdigungen ging, um es mal so auszudrücken.«
»Da kannst du recht haben. Wenn du mich fragst, war er mehr der Typ für die Feier danach.« Finckel wandte sich mir zu. »Und dem
Weitere Kostenlose Bücher