Gefallene Engel
überwechselte.
»Woran denkst du, Varg?« fragte Finckel.
Ich kehrte zurück ins Jetzt. »Du würdest es mir nicht glauben, wenn ich es sagte.«
»Ich glaube das meiste von dir.« Er blinzelte anzüglich. »Es sah jedenfalls nach angenehmen Gedanken aus.«
Ich stand auf und nickte zur Toilette hin. »Ich muß eben …«
»Waren sie so angenehm?« Wieder das lautstarke Lachen.
Ich sah auf sie hinunter. Der Jakob und der Paul. Wir waren nicht gerade die Drei Musketiere gewesen, und es war mehr als zwanzig Jahre her. Aber vielleicht war es doch unser letzter gemeinsamer Abend.
Ich hatte aufgehört, die Halben zu zählen, und noch steigerte sich der Rausch, leicht wie ein Elefant an einem Fallschirm. Das Lokal sah freundlich und anheimelnd aus, mit dem großen Wandgemälde vom Bergenser Hafen, den braunen Sitznischen und den breitbeinigen Serviererinnen, die irgendwie schon immer dagewesen waren. Ein Sprechchor brummender Stimmen, wie gutmütig aufwachende Bären, wurde lauter und leiser und verschwand, als die Toilettentür hinter mir zufiel. Vor einem Becken stand vornübergebeugt ein Mann Mitte Fünfzig. Das halblange Haar fiel ihm wirr in die Stirn, auf der sich eine tiefe, rotbraune Narbe von der einen buschigen Augenbraue schräg nach oben zog, und der feuchte Mund war von fuchsroten Bartstoppeln umgeben, von Nikotin verfärbt. Er stützte sich mit einer Hand gegen die Wand, mit der anderen hielt er sich am schiefen Turm von Pisa fest, als sei er das einzige, an das es sich in diesem Leben zu klammern lohnte.
Als ich hereinkam, sah er auf und sagte: »Schljompfssmrff!«
Ich war ganz seiner Meinung.
»Bitteorogknfff«, fuhr er fort, mit großer Überzeugung, während sich sein Blick auf mein linkes Knie konzentrierte.
Ich erledigte mein Geschäft, knöpfte meine Hose wieder zu und fragte ihn, ob ich ihm irgendwie helfen könnte.
Da bekam er einen solchen Schreck, daß er fast umgefallen wäre. Aber er nahm die andere Hand zu Hilfe und schaffte es, sein Gleichgewicht zu halten. Zum ersten Mal verstand ich, was er sagte: »Grschmmich in Ruhe!«
Ich nickte, wünschte ihm weiterhin viel Vergnügen und ging wieder hinein zu den anderen. Es ging abwärts mit den Politikern dieser Stadt.
Paul Finckel hatte beschlossen, irgendwo tanzen zu gehen.
»Muß mein Taktgefühl mal wieder testen«, sagte er und grinste zweideutig.
Jakob fiel langsam der Kopf auf die Seite. »Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt getanzt habe«, sagte er mit schwerer Zunge.
»Mein letztes Mal verleitet mich nicht zur Wiederholung«, sagte ich.
»Na kommt schon!« sagte Finckel. »Es ist nicht so schlimm, wie es klingt!«
Zögernd leerten wir unsere Gläser und verließen das Lokal. Es fielen große Schneematschflocken, als würden atemlose Engel mit der Posaune mißglückte Seifenblasen über die Stadt pusten.
Bergen sah aus wie ein einziges großes Weihnachtsgeschenk. Überall glitzerten buntbesprühte Tannenzweige, schwingende Glühbirnen, Weihnachtsmänner in trostlosen Schaufenstern, in denen eher die Preisschilder als die Gegenstände das Bild dominierten, und aus camouflierten Lautsprechern tönten uns klirrend Weihnachtslieder entgegen wie konservierte Aufnahmen von längst vergangenen Adventsfesten. Die Torgallmenning hinauf hatten sie den alljährlichen Wald von Weihnachtsbäumen gepflanzt, und die Weihnachtssammlung der Heilsarmistinnen hatte ein paar Wochen vor Weihnachten den Sperrmüll überflüssig gemacht.
Finckel führte uns, über Torget und zurück in die Vergangenheit. »Wißt ihr noch, wie wir in die Vikinghalle zum Tanzen gingen – oder in die Espelandshalle, mit der Askoyfähre rüber nach Bergheim – oder in den Kjobmann, wenn alle Osterlämmer losgelassen wurden? – Ja, du, Jakob, du warst doch wohl überall?«
Jakob nickte. »Es gibt kein Dorffest und kein Tanzlokal in der Stadt, wo ich nicht gespielt habe. Aber wir sahen das Ganze ja aus einem etwas anderen Winkel, von der Bühne.«
»Hätte ich Flügel, so flöge ich weit, mit den Harpers gen Himmel, für alle Zeit!« johlte Finckel. Dann kam er wieder auf die Erde zurück. »Aber du, Varg, warst nicht sooft dabei, oder?«
»O doch, aber vielleicht nicht mit dir, Finckel.« Aus irgendeinem Grund gelang es mir nicht, ihn wieder beim Vornamen zu nennen. Er war und blieb der Finckel, etwas anderes wollte mir nicht über die Lippen.
Aber er hatte recht. Ich war selten zum Tanzen gegangen. In den Jahren ging ich lieber zu den Samstagstreffen
Weitere Kostenlose Bücher