Gefallene Engel
im Versammlungshaus, wo Rebeccas Vater sprach. Und es vergingen noch viele Jahre, bis ich mit ihr zum Tanzen ging …
Wir standen irgendwo Schlange. Finckel witzelte nach links und rechts, während Jakob schwankend und in himmlischer Harmonie dastand. Vor uns stand Petrus in Türsteheruniform, zählte, wieviele Schlipse wir trugen und ließ uns ein nach dem Mengenprinzip, Als wir endlich das Nadelöhr passieren durften, fühlten wir uns wie Kamele nach einem langen Wüstenmarsch. Aber bevor wir richtig drinnen waren, hatte uns die Musik die Haare nach hinten gebürstet, und sogar Finckel war nah daran, vom Sockel zu kippen.
Wir arbeiteten uns zu drei Stehplätzen um einen runden Tisch in Brusthöhe vor, und Finckel holte uns drei hohe, schmale Gläser Pils von der Bar. »Das sind Halbe, auch wenn’s nicht so aussieht!« rief er.
»Bezahlen wir Höhenzulage?« rief ich.
Er öffnete die eine Hand und sah auf das Wechselgeld. »Luxussteuer auch noch, wie’s scheint.«
Jakob beugte sich zu uns herüber und rief, etwas leiser: »Sagt mal, sind wir nicht viel zu alt für die Show hier?«
Wir sahen uns um.
Wir gehörten definitiv zu den ältesten Jahrgängen. Die meisten Mädchen hier würden wohl eher mit anderen Mädchen tanzen, als mit uns. Der Rhythmus aus der Musikanlage schlug wie waagerechte Eisenspitzen durch unsere Köpfe, pflanzte sich fort durch alle Knochen und ließ uns schließlich vor und zurück zucken, zu einer und zur anderen Seite, vor und zurück, zur einen und zur anderen Seite, auf eine Weise, die uns vorzeitig altern ließ, ließ uns viel früher, als wir gedacht hatten, auf dem Boden der Biergläser ankommen, und danach wieder an die Oberfläche treiben, wie verschreckte Aquariumfische in einem Bassin, das für Haie bestimmt war.
Draußen auf der Straße, mit dem Lachen der Schlange zwischen den Schulterblättern, gestand Finckel sofort seinen Fehler ein. »Tut mir leid, Jungs. Ich hab’ eure Pässe nicht richtig gelesen. Ich hätte mir die Geburtsdaten genauer angucken sollen. – Nächste Station Wachsfigurenkabinett! Da finden wir die passenden Frauen …«
Aber als wir das Restaurant erreichten, das im Volksmund den Namen Wachsfigurenkabinett hatte, waren die für uns passenden Frauen schon sehr beschäftigt.
Wir quetschten uns an einem Zweiertisch zusammen, im Schatten einer Palme mit gespaltenen Haarspitzen, und nahmen das Lokal genauer in Augenschein.
Hier tanzten sie jedenfalls Tänze, deren Schritte wir beherrschten. Ein Drei-Mann-Orchester mit Rhythmusgerät und Keyboard sang die Fjellveivise, im Swingtakt und mit italienischem Akzent. Der Leadsänger war zweifelsohne aus Knarvik, aber seine zwei Kollegen kamen eher aus der Nähe von Napoli als aus Nordnes.
»Du weißt, wie sie diese Art Handklaviatur oder remote keyboard, wie es in der Fachsprache heißt, nennen?« sagte Jakob.
»Nein. Wie denn?«
»Mädchenfänger. Nachdem es auf den Markt kam, wurde es nämlich auch für den Pianisten leichter, direkt von der Bühne Mädchen aufzureißen.«
»Ich merke schon, es zieht dich zum Mikrophon«, witzelte Finckel.
Jakob schüttelte den Kopf. »O nein. Jetzt nicht mehr. Wenn ich so was wie das hier seh’ und höre, dann bin ich gerade froh, daß wir rechtzeitig aufgehört haben.«
»Wie lange wart ihr dabei?« fragte ich.
»Bis – Mitte der 70er Jahre.«
»Und der Johnny ist immer noch dabei«, sagte Finckel.
Jakob lächelte schief. »Der Johnny war aus ’nem anderen Holz als wir anderen. Für ihn gab es nur zwei Möglichkeiten: weitermachen, oder …« Er zeigte auf den Boden. »Abwärts.«
»Warum habt ihr aufgehört?« fragte ich.
Er ließ seinen Blick in meine Richtung gleiten, sah mir kurz in die Augen und bewegte ihn weiter. »Wir – haben einfach aufgehört.«
»Kellner!« winkte Finckel.
Ein kleiner, dicklicher Kellner mit dunklen Locken und dicker Hornbrille gab jedem von uns eine Karte mit Fettflecken und ließ uns zehn Minuten die Reiseroute studieren, bevor er zurückkam und notierte, wohin wir wollten. Wir bestellten und erhielten jeder unser Bier.
Die passenden Frauen waren weiterhin beschäftigt. Sie tanzten wie junge Mädchen. Das einzig Anrührende an ihnen war, daß sie so tanzten, wie junge Mädchen vor dreißig Jahren getanzt hatten. Wären sie in dem Lokal aufgetaucht, das wir gerade verlassen hatten, hätte man sie angeguckt wie Fossilien aus dem Silur. Auch wenn sie sich, so gut es ging, eingeschnürt und hochgeschnürt hatten, brauchte es
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