Gefallene Sonnen
einen weiß glühenden See verwandelt. Ein gewaltiger Krater entstand, in dem es nichts mehr gab, weder Klikiss-Roboter noch Gebäude oder Wasserstoff- und Methaneis.
Sirix’ schwer beschädigtes Schiff wurde ins All geschleudert.
98 JESS TAMBLYN
Jess stand draußen auf der Oberfläche des Eismonds, das Haar feucht und wellig, die Augen hell und blau. Selbst hier im Vakuum bedeckte eine ölig glänzende Wasserschicht seine wie Perlmutt schimmernde Kleidung.
Sein von den Wentals verbesserter Blick durchdrang die dicken Eisschichten wie eine leicht verzerrte Fensterscheibe. Allein ging er über die Oberfläche, vorbei an den zylindrischen Brunnenschächten, vorbei auch an den isolierten Schuppen und weit in die Tiefe reichenden Liftschächten. Er versuchte, sich zu erinnern. Seit dem fatalen Unfall seiner Mutter waren so viele Jahre vergangen…
Mehr als einen Kilometer weit ging er, bis er eine breite, silbrige Narbe sah, einen kaum verheilten Riss in der gefrorenen Kruste.
Vor langer Zeit war Karla Tamblyns Oberflächenwagen durch das Eis gebrochen. Sie hatte sich nicht befreien können, und als der Wagen zu sinken begann, gab es keine Hoffnung mehr für sie. Sie war immer tiefer gesunken, bis das Eis den ganzen Wagen umgab. Fast zwei Stunden lang hatte Karla senden und Abschied nehmen können, bis die Batterien versagten. Schließlich war erst Wasser in das Fahrzeug eingedrungen und dann zu Eis erstarrt – ein kalter Sarg, in dem Jess’ Mutter seit neunzehn Jahren lag. Für die Roamer war sie unerreichbar gewesen; es hatte nicht einmal eine Bestattung stattfinden können.
Jetzt schickte sich ihr Sohn an, sie zu bergen.
Jess stand auf der wieder zugefrorenen Gletscherspalte, ballte die Fäuste und fühlte die Wental-Energie in seinem Innern. Er konnte das Unmögliche schaffen.
Mit seiner besonderen Affinität für Wasser sank Jess durch festes Eis. Diesmal hatte er ein Ziel: den Wagen in der Tiefe. Er sank wie durch Gelatine, sah nach unten und spürte die Kälte trotz des schützenden Films.
Am seltsamsten aber war: Er spürte seine Mutter, fühlte ihre Existenz. Jess war entschlossen, sie zurückzuholen, wenn auch nur, damit er und die Roamer auf angemessene Weise von ihr Abschied nehmen konnten. Das Eis teilte sich vor ihm, und hinter ihm schloss sich die Lücke, bis Jess schließlich vor dem Wagen verharrte. Die Fenster waren unter dem hohen Druck geplatzt, und das Innere des Fahrzeugs hatte sich mit stahlhartem Eis gefüllt.
Für Jess stellte es keine Barriere dar. Mühelos glitt er weiter und sah im Innern seine Mutter, wie eine Statue auf dem Fahrersitz. Ihre Arme waren ausgebreitet, als hätte sie den Tod willkommen geheißen. Aus irgendeinem Grund hatte Karla im letzten Augenblick das Visier ihres Helms geöffnet. Jess wusste von Menschen, die während der letzten Phasen extremer Hypothermie unerklärliche körperliche Reaktionen erlebten; sie glaubten, jähe Hitze zu fühlen, und versuchten deshalb, sich die Kleidung vom Leib zu reißen.
Karlas Gesicht war gefroren, mit geöffneten Augen. Der Mund bildete eine zufriedene Linie, deutete fast ein Lächeln an. Sie hatte Zeit gehabt, sich zu verabschieden, ihr Schicksal zu akzeptieren in dem Wissen, dass niemand sie retten konnte. Jess erinnerte sich an jenen Tag als einen der längsten in seinem Leben. Zusammen mit seinem Vater, Ross und Tasia hatte er an der Kom-Station gesessen. Seine Mutter war damals einfach nur zufrieden gewesen, ihre Stimmen zu hören, während sie langsam starb…
Mit der Kraft der Wentals bewegte Jess die Hände und beschrieb Linien wie ein Bildhauer, der die Ausmaße eines Marmorblocks bestimmte. Seine Gedanken waren es, die Karla Tamblyn aus ihrem eisigen Gefängnis befreiten. Mit ihrer noch immer von Eis eingeschlossenen Leiche glitt er zurück, bis er sich wieder außerhalb des Fahrzeugs befand.
Um ihn herum schmolz das Eis, wenn er sich bewegte, und hinter ihm bildete es sich neu. Für ihn war Wasser ein nach Belieben veränderliches Element. Er umgab sich und den Leichnam seiner Mutter mit einer Blase, die durchs Eis nach oben stieg.
Durch hunderte von Metern dicke Eisschichten blickte er zum matten Tageslicht empor und brachte sie allein mit Willenskraft nach oben. Nie zuvor war er für die Wental-Fähigkeiten so dankbar gewesen. Hier konnte er sie nutzen, ohne andere Menschen zu gefährden.
Als er die Oberfläche erreichte, ließ Jess seine Mutter in dem schützenden Eisblock. Nach all der Zeit wollte er
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