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Gefallene Sonnen

Gefallene Sonnen

Titel: Gefallene Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin J. Anderson
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ildiranischen Splitter-Kolonie befanden. Er wollte nicht für immer allein sein, wie seine Mutter.
    Nachdem Anton fünf besonders lustige Fabeln von Äsop erzählt hatte, ließ sich Vao’sh in ein Gespräch verwickeln, in dem es einerseits um die Unterschiede zwischen reiner Fiktion und den metaphorischen Parabeln ging, mit denen Menschen eine Lebensweisheit vermitteln wollten, und andererseits um die historische Wahrheit in der Saga der Sieben Sonnen.
    »Wir sind nicht immer so präzise, wie wir gern glauben«, sagte Vao’sh, und dabei klang seine Stimme sehr ernst. »Vor langer Zeit fielen so viele Erinnerer einer Epidemie zum Opfer, dass ihre Nachfolger Feinde schufen, um die Lücken in der Saga zu füllen.«
    »Sie schufen Feinde? Wie meinen Sie das?«
    Farben huschten durch Vao’shs Gesicht. »Ich verrate Ihnen jetzt ein Geheimnis, von dem nur die Größten meines Geschlechts wissen. Als das Feuerfieber eine ganze Generation ildiranischer Geschichtenerzähler auslöschte, als große Teile der Saga der Sieben Sonnen verloren gingen, erfanden wir die Shana Rei. Damit füllten wir die Lücken und hatten gleichzeitig Stoff für neue Geschichten.«
    Diese Enthüllung widersprach allem, was Anton über die ildiranischen Historiker wusste. »Soll das heißen, die Shana Rei sind ein erfundenes Schreckgespenst?«
    »Die Shana Rei existieren nicht. Sie haben nie existiert. Da sich das friedliche Ildiranische Reich keinen ernsten Bedrohungen gegenübersah, gab es auch keine echten Helden. Unsere ruhmvolle Geschichte brauchte Helden. Deshalb erfanden die damaligen Erinnerer mythische Widersacher. Zuerst waren jene Geschichten Teile von Apokryphen, doch der Weise Imperator befahl, dass sie als Wahrheit in zukünftige Versionen der Saga aufgenommen werden sollten. Über tausende von Jahren hinweg haben Ildiraner sie ohne irgendwelche Vorbehalte geglaubt. Ich schäme mich dafür, unnötige Ängste bei meinem Volk gefördert zu haben. Ein Historiker sollte nie die Geschichte fälschen.«
    Anton beruhigte ihn. »Aber ein Geschichtenerzähler nutzt Möglichkeiten, sein Publikum zu beeinflussen. Vielleicht sind die Geschichten der damaligen Erinnerer inspirierender als die verloren gegangenen Wahrheiten, wer weiß? Die Zuhörer haben den Schilderungen großer Schlachten gelauscht und ildiranische Helden bejubelt, die in einem imaginären Krieg kämpften.« Er lächelte schief und traurig. »In der Vergangenheit sind weitaus schlimmere Dinge angerichtet worden.«
    Als Erinnerer Vao’sh sein Geheimnis preisgegeben hatte, schien eine schwere Bürde von ihm gewichen zu sein. Doch allein und ohne die tröstende Präsenz anderer Ildiraner schwanden seine Kräfte mit jedem verstreichenden Tag. Auf Maratha hatte er den anderen Ildiranern Geschichten erzählt, um ihnen Mut zu machen, doch jetzt konnte er nicht mit dem Schrecken der eigenen Einsamkeit fertig werden.
    Ihr Schiff setzte den Flug fort, vorbei an den Sternen des Horizont-Clusters, in Richtung Ildira. Vao’sh wurde immer schwächer und war am vierten und fünften Tag nach dem Verlassen von Maratha nur noch ein Schatten seiner selbst.
    Anton schlief nicht, denn er wusste: Wenn er aufhörte, mit Vao’sh zu reden, starb der Ildiraner vielleicht. Er war völlig erschöpft und hatte dem Erinnerer alle Geschichten erzählt, die ihm einfielen, von klassischen Epen bis hin zu moderner Unterhaltung. Er versuchte es sogar mit Witzen, obwohl Vao’sh die meisten Pointen nicht verstand. Schließlich erbebte der ildiranische Historiker am ganzen Leib und glitt noch tiefer in das Elend seiner Isolation.
    »Ich wünschte, ich könnte ein Thism mit Ihnen teilen«, sagte Anton und griff nach Vao’shs Arm. »Aber so etwas gibt es bei Menschen nicht.«
    Anton zwang sich, wach zu bleiben, aber nach so langer Zeit konnte er sich kaum noch gegen den Schlaf wehren. Seit sechs Stunden hatte Vao’sh keinen Ton von sich gegeben und starrte ins Leere. Antons Kehle war wund vom dauernden Reden, und es gab nur noch wenig Wasser. Er schaffte es einfach nicht mehr, die Augen länger offen zu halten, nickte schließlich ein. Wie lange er schlief, wusste Anton nicht, aber es war eine heilsame Ruhe, tief wie ein Koma…
    Ein beharrliches Summen weckte ihn. Die Kom-Anzeigen blinkten, und er setzte sich alarmiert auf. Draußen glitten helle Lichter vorbei – Scoutschiffe der Solaren Marine, die am Rand des Horizont-Clusters patrouillierten!
    Hastig beugte sich Anton vor und aktivierte das Kom-System.

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