Geheimnisse einer Sommernacht
PROLOG
London 1841
Ihre Mutter hatte Annabelle Peyton immer davor gewarnt, Geld von Fremden anzunehmen. Doch eines Tages hielt Annabelle sich nicht an diese Warnung … und machte schnell die Erfahrung, dass es besser gewesen wäre, sie hätte auf ihre Mutter gehört.
Es passierte während einem der seltenen Besuche von Annabelles Bruder Jeremy. In seinen Schulferien wollten sie zusammen die neueste Panoramaschau am Leicester Square besuchen. Für die Eintrittskarten hatten sie vom knapp bemessenen Haushaltsgeld zwei Wochen lang immer etwas zurückgelegt. Annabelle und ihr jüngerer Bruder waren die einzigen noch lebenden Kinder der Peyton-Familie. Zwei weitere Geschwister, die nach Annabelle geboren worden waren, hatten ihren ersten Geburtstag nicht erlebt. Und so war das Verhältnis der beiden Geschwister trotz des Altersunterschieds von zehn Jahren immer besonders eng gewesen.
„Hast du noch Geld, Annabelle?“, fragte Jeremy, als er vom Kartenschalter zurückkam.
Sie sah ihn fragend an. „Nein, leider nicht. Warum?“
Mit einem kurzen Seufzer strich Jeremy sich die blonde Haartolle aus der Stirn. „Für diese Schau haben sie den Eintrittspreis verdoppelt. Offensichtlich sind die Herstellungskosten wesentlich höher als für ihre gewöhnlichen Produktionen.“
„In der Zeitungsannonce stand aber nichts von höheren Eintrittspreisen“, erwiderte Annabelle ärgerlich. „Verflixt noch mal“, murmelte sie, während sie ihren Geldbeutel in der Hoffnung öffnete, dort doch noch eine versteckte Münze zu finden.
Der zwölfjährige Jeremy blickte traurig auf das riesige Plakat, das über dem Säuleneingang des Panoramatheaters hing.
Der Untergang des römischen Weltreiches
Eine fantastische Illusionsschau mit Transparentbildern
Seit der ersten Vorstellung vor einer Woche war der Besucherandrang enorm. Die Menschen wollten unbedingt die wunderbare Geschichte vom Aufstieg und tragischen Untergang des Römischen Reiches sehen. „Als ob man die Zeit selbst miterlebt“, hatten die Besucher nach der Vorstellung geschwärmt. Bei der üblichen Panoramaschau betrachtete das Publikum in einem 360-Grad-Rundumblick eine kunstvoll auf Leinwand gemalte Szene. Meist erhöhten Musik und spezielle Lichteffekte den Unterhaltungswert der Schau, während ein Erzähler den Kreis abschritt und fremde Orte oder berühmte Schlachten kommentierte.
Nach der Beschreibung in der Times handelte es sich bei dieser neuartigen Vorstellung allerdings um ein sogenanntes Diorama. Das Panoramabild wurde in diesem Fall nicht auf bemalter Leinwand, sondern auf transparentem dünnen Baumwollstoff dargestellt, der je nach gewünschtem Effekt von vorne beziehungsweise manchmal auch von hinten mit speziellen farbigen Lichtblenden angestrahlt wurde. Dreihundertfünfzig Zuschauer standen in der Mitte des abgedunkelten Raums auf einer Empore, die von zwei Männern während der gesamten Schau langsam um die Mittelachse gedreht wurde. Das Zusammenspiel von Licht, Spiegeln und sogar Schauspielern in den Rollen belagerter Römer, produzierte einen Effekt, der die Bezeichnung lebende Ausstellung nahelegte. Wie Annabelle in der Zeitung gelesen hatte, sollten die Schlussszenen der simulierten Vulkanausbrüche so realistisch sein, dass einige Frauen im Publikum vor Entsetzen geschrien hätten oder sogar in Ohnmacht gefallen seien.
Jeremy nahm Annabelle den Geldbeutel aus der Hand und zog das Bändel zu. „Für eine Eintrittskarte reicht es“, stellte er nüchtern fest und gab ihr die Geldbörse zurück. „Du gehst in die Schau. Ich wollte sie sowieso nicht sehen.“
„Auf keinen Fall“, widersprach Annabelle kopfschüttelnd, da sie genau wusste, dass ihr Bruder um ihretwillen log.
„Du gehst hinein. Ich kann mir jederzeit so eine Panoramaschau ansehen, doch du musst bald wieder zurück ins Internat. Außerdem dauert die Schau nur eine Viertelstunde. Während du da drinnen bist, gehe ich in eins der Geschäfte hier in der Umgebung.“
„Was willst du denn da? Einkaufen ohne Geld?“ Skeptisch sah Jeremy sie mit seinen blauen Augen an. „Das macht Spaß, nicht wahr?“
„Ach, ich will gar nichts kaufen. Ich mache lediglich einen Bummel durch die Geschäfte.“
Jeremy schnaufte empört. „Ja, ja, damit trösten sich die armen Leute, wenn sie über die Bond Street flanieren.
Außerdem lasse ich dich sowieso nirgendwohin alleine gehen. Alle Männer in der Umgebung werden sich bestimmt gleich auf dich stürzen.“
„Ach, sei doch nicht
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