Gefangener der Sinne - Singh, N: Gefangener der Sinne
benutzt. Dorian hatte den Mörder mit bloßen Händen in Stücke gerissen, aber das hatte trotzdem die Wut in seinem Leopardenherzen und die Qualen in seiner menschlichen Seele nicht lindern können.
Kylies Körper war noch warm gewesen, als er sie gefunden hatte.
„Dorian.“ Saschas Stimme drang durch den Gifthauch von Schmerz und Zorn, der ihn umgab. „Nicht.“
Bestrafe dich nicht selbst für die Tat einer Bestie; lass dich nicht auch noch von ihm töten. Das hatte sie all die Monate nach Enriques Hinrichtung immer wieder gesagt, und Dorian hatte versucht, auf sie zu hören. Eine Zeitlang hatte er geglaubt, er könne die Wut überwinden, aber sie hatte nur auf einen Moment wie diesen gelauert, um wieder zum Leben zu erwachen, ausgelöst durch die Erinnerung an das Blut an Keenans Handgelenken … und auch durch die Erinnerung an Ashaya Aleines eisige Stimme.
Er stand auf. „Ich gehe jetzt auf die Jagd. Gib Acht auf Keenan.“ Trotz ihrer besonderen Gaben konnte selbst Sascha seine Schuld nicht auslöschen. Denn sein Zorn galt nicht allein den Medialen – er galt auch ihm selbst, denn er hatte Kylie im Stich gelassen, seine kleine Schwester. Und er würde nicht zögern, sich die Adern aufzuschneiden, sein Herz herauszureißen, seine Seele aufzugeben, wenn es sie nur wieder zurückbringen würde.
Aber das war nicht möglich, und er hatte gelernt, mit der Trauer zu leben, mit seiner Schuld, hatte sogar seinen Rudelgefährten weisgemacht, es ginge ihm besser. Vielleicht hatte er es sogar selbst geglaubt. Bis diese Frau kam.
Die er beim ersten Anblick beinahe erschossen hätte.
Nicht weil sie böse war. Oder weil er sie für einen gefährlichen Joker hielt. Nein, der einzige Grund dafür, ihr eine Kugel in den Leib zu jagen, war gewesen, dass sein Glied steinhart geworden war, sobald er ihren Duft wahrgenommen hatte. Diese plötzliche körperliche Reaktion hatte die maßlose Wut über seine Schuld wieder zum Vorschein gebracht, die sich wie eine Schlinge immer fester um seinen Hals zog, in seinem Herzen brannte. Und er hatte nur noch die Ursache für seinen erschütternden Verrat an Kylie auslöschen wollen.
Er – angezogen von einem dieser Silentium-Monster?
Er presste den Mund zu einem schmalen Strich zusammen. Lieber würde er sich selbst kastrieren, als das zuzugeben.
4
Er verfolgt mich. Der Scharfschütze. In meinen Träumen ist er ein schwarzer Schatten, der sein Auge an das Zielfernrohr eines Gewehrs presst. Manchmal nimmt er die Waffe herunter und kommt auf mich zu. Manchmal berührt er mich sogar. Aber meistens drückt er den Abzug und tötet mich.
– aus den verschlüsselten Aufzeichnungen Ashaya Aleines
Als Ashaya ihr Bewusstsein wiedererlangte, war ihr sofort klar, dass etwas schiefgelaufen war. Ihr Verstand arbeitete, ihr Körper aber nicht. Sie war gelähmt. Ein Mensch oder Gestaltwandler, ein Wesen mit Gefühlen, wäre von Panik ergriffen worden. Ashaya lag ganz ruhig da und dachte nach.
Wenn sie nicht blind geworden war, mussten ihre Augen verschlossen worden sein, wahrscheinlich mit Klebeband, obwohl sie das nicht nachprüfen konnte. Sie war also entweder in einer Klinik oder im Leichenschauhaus.
Da ihr Körper weder Kälte noch Wärme spürte, konnte sie das ebenfalls nicht nachprüfen.
Sie hörte nichts.
Sie roch nichts.
Sie konnte nicht sprechen.
Jetzt begannen klaustrophobische Ängste in ihr aufzusteigen. Sie war auf endgültige Weise begraben – in ihrem eigenen Körper. Alle Glieder waren völlig nutzlos, eine Flucht war unmöglich. Nein, dachte sie und zwang sich zur Konzentration, damit sie nicht in Silentium eindringen konnten, denn das hatte sie schließlich bislang am Leben erhalten. Sie war weder ein Mensch noch ein Gestaltwandler. Ihr stand eine andere Welt offen. In ihrem Kopf suchte sie nach der Verbindung zum Medialnet. Sie war da – stark und unerschütterlich. Was auch immer schiefgelaufen war, ihre geistigen Fähigkeiten waren davon nicht betroffen.
Sie folgte der Verbindung, senkte vorsichtig ihre Schilde und ließ ihr geistiges Auge über diesen Teil des Netzwerks streifen. Innerhalb von Sekunden tauchten bekannte Gehirne auf. Sie zog sich sofort zurück. Genau das war das Schwierige am Medialnet. Obwohl ihre Ausgangsposition davon abhing, wo sich ihr Körper befand, bewegte sie sich in bekannten Gefilden, sobald sie die Schilde senkte – als gäbe es für jedes Individuum eine einzigartige Version des Medialnet.
Das war zwar nicht logisch, denn
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