Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
dass die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche meinen Eltern in der Zeit des Nationalsozialismus eine wichtige Orientierung gab. Herr Hitler hat bei uns keine Rolle gespielt, weil der Papst nicht gesagt hat, dass der Führer ein heiliger Mann ist. Wenn er das gesagt hätte, wäre meine Mutter dem Führer natürlich mit wehenden Fahnen gefolgt. Aber so lange das nicht der Fall war, galt immer das Wort aus Rom.
STERN Immerhin war dem Papst 1933 das Konkordat mit Hitler willkommen. Das war schon eine Art moralischer Anerkennung.
FISCHER Das waren Feinheiten, die in der donauschwäbischen Provinz wohl kaum zur Kenntnis genommen wurden. Zudem war das eine Unterschrift unter einem Vertrag zwischen dem Vatikan und dem Deutschen Reich, und meine Familie lebte, wie gesagt, seit zweihundert Jahren in Ungarn.
STERN Sind Sie mit Ungarisch aufgewachsen?
FISCHER Ich spreche es nicht, aber ich bin damit aufgewachsen, weil beide Eltern bilingual waren. Das ging ständig hin und her. Ich kann mich deshalb ziemlich gut in die Lage hineinversetzen, in der sich junge Zuwanderer der ersten oder zweiten Generation befinden. Du lebst da zwischen zwei Welten: Die Küche zu Hause ist eine andere Welt als die Welt außerhalb, der Dialekt oder die Sprache ist drinnen eine andere als draußen. Du lebst in einem wirklichen Land, in das du hineingeboren wurdest, und in einem narrativen Land, von dem immer erzählt wird, in einer merkwürdigen Sprache. Also, ich kann mich dadurch ziemlich gut in junge Zuwanderer hineinversetzen. Ich habe ja schon von den Gräbern erzählt: Heimat ist für mich der Ort, wo du Gräber besuchen kannst. Wo ich groß geworden bin, gab es kein Grab meiner Familie. All die Gräber waren in Ungarn. Und so habe ich bis heute kein wirkliches Heimatgefühl in mir. Frankfurt am Main vielleicht ist die Ausnahme, meine erworbene Heimat.
STERN Vor mehr als zwanzig Jahren wurde ich bei einer Diskussion im Goethe-Institut in New York einmal gefragt, was mir bei dem Wort Heimat einfällt. Da sagte ich wie aus der Pistole – es hatte mich noch nie jemand danach gefragt, und die Frage war auch wirklich nicht akut –, bei Heimat fällt mir heimatlos ein. Und wenn Sie sagen, Sie könnten sich gut in die Situation von Zuwanderern einfühlen, dann sage ich: Ich auch, ich habe das ja auch erlebt, dieses Gefühl, nirgendwo wirklich zuhause zu sein. «Ein weites Feld».
FISCHER Sogar in Extremen.
STERN Ja.
FISCHER Spielt der Begriff Heimat bei den Amerikanern überhaupt eine Rolle?
STERN Nein. Home und Heimat sind zwei verschiedene Begriffe. Wissen Sie, Heimat ist ein sehr viel emotionalerer, zum Teil auch sentimentalerer Begriff als Home – aber vielleicht hat sich dieser Unterschied auch erst später entwickelt.
FISCHER Fernweh spielt, glaube ich, eine große Rolle in Amerika – und wo man herkommt.
STERN Ganz richtig, die Gegend. Ob man hier geboren ist oder dort, das ist wichtig.
FISCHER Was versteht man in Amerika unter Gegend? Eine Landschaft?
STERN In erster Linie wohl, jedoch mehr im Sinne einer geographischen und mit gewissen Vorstellungen verknüpften Einordnung wie Süden oder Norden, Kalifornien oder Mittlerer Westen. Aber es hängt natürlich auch mit dem Dialekt zusammen, und der spielt eine entscheidende Rolle, wenn es um Aufstiegsmöglichkeiten geht, früher allerdings sehr viel mehr als heute. Den Boston-Akzent konnte man ganz klar vom Südstaaten-Akzent unterscheiden, wie zum Beispiel den Unterschied zwischen Kennedy und Johnson.
FISCHER Die Südstaatler reden ja nicht, die singen ihre Sprache. Bei uns sind Dialekte wichtig, spielen für die Sozialhierarchie aber keine Rolle. Ob einer kölsch spricht oder bayerisch, ist ziemlich egal. Wenn einer schwäbisch spricht und entsprechend gute Leistungen bringt, kommt er genauso weit, wie wenn er Hochdeutsch spräche. Das ist in Frankreich ganz anders. Da giltst du als Tölpel, wenn du Dialekt sprichst. Es gibt ja viele französische Dialekte, aber egal welchen du sprichst, du bist ein Bauer. Ein dialektfreies, hervorragendes Französisch ist Ausweis der Meritokratie. Auch in Großbritannien erkennt man an der Sprache sofort den Klassenstatus. Bei uns ist die Sprache kein Kriterium für die gesellschaftliche Stellung einer Person. Im Bundestag hören Sie Reden in allen möglichen Dialektfärbungen, und dass die meisten Reden schlecht sind, liegt nicht am Dialekt.
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