Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
Kommunisten.
STERN Ja, das meinte ich, von ungarischen Kommunisten.
FISCHER Bei diesem Besuch in Budakezi wurde mir zum ersten Mal klar, was Enteignung für die betroffenen Menschen bedeutet hatte! Die Wunde war auch Jahrzehnte danach nicht wirklich geschlossen. Und da dachte ich mir, meine Eltern haben 1946 wirklich die richtige Entscheidung getroffen und sind gegangen. Ich habe nie mit ihnen darüber geredet, warum sie gegangen sind. Sie hätten wohl auch bleiben können, aber ich glaube, die russische Besatzung hat wesentlich zu ihrem Entschluss beigetragen. An dem Ort zu leben, wo einem alles genommen wurde, das ist nicht schön.
STERN So ist es.
FISCHER Wann waren Sie das erste Mal nach der Emigration wieder in Wrocław?
STERN 1979. Ich habe einen Vortrag in Posen gehalten und mir dort einen Wagen gemietet, um nach Breslau zu fahren. Dabei habe ich festgestellt, dass die Ausflüge meiner Eltern immer Richtung Südwesten gingen, ins Riesengebirge, auch auf die tschechische Seite, aber nie nach Norden, nach Polen, und deshalb war die Fahrt nach Breslau für mich sozusagen eine Neueinfahrt in die Stadt.
FISCHER Auf die polnische Seite ist man damals nicht gefahren?
STERN Nein, meine Eltern jedenfalls nicht. Sie fuhren lieber in die Sudeten.
FISCHER Es soll ja auch sehr schön dort sein.
STERN Ist es auch. Das Erste, was ich bei meiner Einfahrt in Breslau erkannt habe, war das Polizeigebäude, wo ich mit elf oder zwölf Jahren früh am Morgen meinen Vater abgegeben habe, weil er die Papiere zur Auswanderung vorbereiten musste. Allein dieses Riesenpolizeigebäude zu sehen, von dem ich schon die Grausamkeiten gehört hatte, und da reinzugehen war für ein Kind schon ein gewaltiger Schrecken – und ausgerechnet dieses Gebäude war das Erste, an dem ich vorbei kam. Allmählich habe ich dann auch anderes wiedererkannt, mein Gymnasium, die Villa meiner Großmutter. Da kam eine junge Dame raus, und ich wollte ihr klar machen, dass in diesem Haus früher meine Großmutter gelebt hatte, ob ich es mir ganz kurz einmal ansehen könnte; es gab Sprachschwierigkeiten zwischen ihr und mir, und sie war nicht besonders freundlich. Dann kam ihr Mann runter, der Französisch sprach und gleich sagte: «Kommen Sie doch rein!» An den Wänden im Wohnzimmer hingen nur Bilder und Zeichnungen aus Auschwitz. Als ich nach dem Grund fragte, öffnete der Mann sein Hemd, auf der Brust die eintätowierte Haftnummer: «Ja, ich war in Auschwitz.» Er war dort als polnischer Offizier gefangen gewesen. Da kam es über mich, und da sagte ich: «Ich bin froh, dass Sie hier sind, das freut mich.» Meine Frau hat dann ein Foto gemacht, wie wir uns die Hand schütteln. Ich fand es irgendwie gerecht, dass jemand, der in Auschwitz gewesen war – ein Schicksal, dem ich entkommen bin –, jetzt im Haus meiner Großmutter lebte.
FISCHER Wenn die Deutschen über Vertreibung reden, muss man immer wieder daran erinnern: Der Überfall auf die Tschechoslowakei und Polen ist der Beginn gewesen, das darf man nicht vergessen.
STERN Nein! Aber wir sollten auch nicht vergessen, dass es angefangen hat mit Deutschen, die andere Deutsche vertrieben haben, und zwar nicht nur die berühmten wie Thomas Mann, Bertolt Brecht und Marlene Dietrich oder politische Gegner wie Ernst Reuter und Willy Brandt, sondern auch die vielen Juden und sogenannte Nicht-Arier, die sich immer als Deutsche gefühlt haben, und wir reden hier über Hunderttausende. Diese Vertreibung war die erste, das wurde gern vergessen, wenn das Wort Vertreibung fiel.
FISCHER Richtig. Das ist der Beginn. Diese Tragödie ist der Beginn!
STERN Glauben Sie, dass die Tatsache, dass Sie aus einer Vertriebenenfamilie kommen, Ihre politische Biographie in nennenswerter Weise geprägt hat? Hat diese Herkunft eine Rolle in Ihrer politischen Entwicklung gespielt?
FISCHER Nein. Natürlich wird ein Kind durch den Familiendiskurs geprägt, vor allem emotional. Aber das Milieu der Heimatvertriebenen war bei uns zu Hause nicht das bestimmende, das spielte eher eine untergeordnete Rolle. Meine Eltern gingen zum Donauschwabentag, weil sie da Freunde und Bekannte trafen, mehr nicht. Entscheidend war das Katholische. Im Moment meiner Geburt, als man mich meiner erzkatholischen Mutter in den Arm legte, war ich schon im Würgegriff der Mater Ecclesia. Ich bin in einem streng katholischen Elternhaus großgeworden, meine Eltern waren
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