Gegenschatz
meinen allerfinstersten Blick zu, drehe mich auf dem Absatz meiner Hausschuhe um und verschwinde wieder in meiner Wohnung. Ich schlage die Tür hinter mir zu, atme tief durch und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Mein Puls rast noch immer von der Aufregung. Dieser arrogante Schnösel! Ich schätze, dass er wie ich so um die dreißig Jahre alt ist, aber er verhält sich wie ein pubertärer, schwanzgesteuerter Penner, denke ich noch immer wütend. Zum Glück herrscht jetzt Ruhe nebenan. Für alle Fälle schlurfe ich dennoch ins Bad und krame die Ohrstöpsel heraus. Darauf hätte ich auch gleich kommen können, aber mit den Dingern im Ohr schläft es sich nicht besonders gut, außerdem sollte ich den Wecker am nächsten Morgen nicht überhören. Ich gehe wieder ins Schlafzimmer, lege die Ohrstöpsel griffbereit auf den Nachttisch, schäle mich aus dem Bademantel und schlüpfe wieder ins Bett. Von nebenan höre ich eine gedämpfte Unterhaltung und leises Kichern. Darüber kann ich mich eigentlich nicht beschweren, aber mein Innerstes ist noch zu aufgewühlt, um in den Schlaf zu sinken. Eine geschlagene halbe Stunde kreisen meine Gedanken um die Szenen von vorhin, bis ich endlich einschlafen kann.
Um sechs Uhr morgens weckt mich mein Radiowecker mit «Summertime Sadness» von Lana del Rey. Ich strecke mich verschlafen und steige langsam aus dem Bett. Sofort erinnere ich mich wieder an die nächtlichen Begegnung mit Marc Rossmann. Ich spiele mit dem Gedanken, mich für die Ruhestörung zu rächen, indem ich morgendlichen Krach veranstalte, der diesen Herrn Rossmann aus dem Bett treiben wird. Aber da ich überhaupt keine Lust auf einen Nachbarschaftskrieg habe, in dem sich am Ende die beiden Parteien mit Pistolen duellieren, verwerfe ich diese reizvolle Idee wieder. Ich öffne das Fenster, um die frische Morgenluft einzuatmen, was ich sofort wieder bereue, als ein heftiger Niesanfall über mich hereinbricht. Verfluchte Birke! Auch daran hätte ich bei der Auswahl der Wohnung denken sollen. Aber als ich einzog, war es Winter gewesen, und das Thema Heuschnupfen hatte ich so weit in meinen Hinterkopf verdrängt, dass ich den Baum vorm Haus völlig ignorierte. Nachdem ich meiner Nase eine Ladung Spray versetze und meine Augen mit Tropfen versehe, kann ich endlich wieder normal durchatmen. Ich blicke die Birke böse an und lehne mich dann aus dem Fenster. Unten stehen mehrere Autos am Straßenrand. Direkt hinter meinem blauen Golf parkt der sanierungsbedürftige Oldtimer meines Nachbarn, keine Ahnung, welche Marke sich dahinter verbirgt, aber Motorhaube und Kofferraum wirken wie in die Länge gezogen. Gegen dieses goldene Schiff sieht mein Golf jedenfalls wie ein Spielzeugauto aus. Ausgenommen einer älteren Dame mit Pudel sind noch keine Leute unterwegs. Für die Uhrzeit ist es relativ warm draußen und am Himmel sehe ich neben dem schmalen Kondensstreifen eines einzelnen Flugzeuges kein einziges Wölkchen. Das wäre der perfekte Tag, um mal wieder mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren, denke ich. Etwas Sport würde mir sicherlich gut tun. Wie jeden Morgen knote ich meine langen Haare zu einem festen Dutt, denn auf der Arbeit herrschen strenge Hygienevorschriften. Ich schlinge rasch mein Frühstück hinunter und schlürfe den heißen Kaffee. Wenn ich mit dem Rad fahre, muss ich mich beeilen, da ich natürlich länger brauche, als mit dem Auto. Ich packe die nötigsten Sachen in meine Tasche, die ich nachher auf dem Gepäckträger verstauen werde. Über das lange blaue Sommerkleid ziehe ich eine Strickjacke, dann laufe ich die knarrende Holztreppe hinunter bis in den Keller. Dort in einem Verschlag steht mein geliebtes Mountainbike. Viele Radtouren habe ich damit schon unternommen. In den Pyrenen bin ich auf verlassenen Straßen durch malerische Landschaften geradelt. Am besten hat mir aber die Tour durch Irland gefallen, auf unglaublich hohen Klippen mit einer atemberaubenden Sicht auf das Meer unter dem Geschrei der Möwen die schmalen Trampelpfade entlang zufahren, war ein unvergleichliches Erlebnis. Damals war ich auch noch mit Nick zusammen gewesen. Wir hatten die Tour gemeinsam geplant und durchgeführt – der schönste und romantischste Urlaub meines Lebens. Der Gedanke an Nick lässt Wehmut und Verbitterung wieder in mir aufkeimen. Ich will jetzt nicht an ihn denken! Ich habe mein Rad inzwischen die Treppen hinauf bis zur Straße getragen und schwinge mich auf den schmalen Sattel. Ich fühle mich sofort eins mit
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