Gegenschatz
dem Rad und die Pedalen drehen sich federleicht unter meinen Füßen. Ich sauge den Fahrtwind ein, der mein Kleid oben eng an meinen Körper schmiegt und unten im Luftzug flattern lässt – sicherlich trage ich nicht das passende Outfit für ein Mountainbike – aber ist mir egal! Das Labor meiner Arbeit liegt etwas außerhalb der Stadt im Industriegebiet, deshalb fahre ich zunächst aus der Stadt heraus, dann folge ich dem Radweg, der sich parallel zur Landstraße an Feldern und Waldinseln vorbei zieht. Ich erreiche eine Anhöhe und erblicke auf der anderen Seite schon meine Firma – ganz in Weiß mit langen Reihen großer Fenster bildet das vierstöckige Gebäude die Form eines ‘U’. Auf dem Dach prangt der mannshohe Schriftzug «BioYTec». Ich lasse mich den Abhang hinunterrollen. Vor der Firma stelle ich das Rad an dem dafür vorgesehenen Stellplatz ab.
Mit meinem Chip verschaffe ich mir Zugang zum Gebäude und steige die Treppen hinauf bis zu meinem Labor. Genau genommen ist es nicht nur mein Labor, denn wir arbeiten hier in einem Team von 10 Personen. Wir verstehen uns alle gut und sind per ‘Du’, inklusive meinem Chefs Simon Mauser. Heute bin ich die erste. Zunächst wasche ich mir gründlich die Hände und schlüpfe dann in meinen weißen Kittel, der in meinem Spinnt für mich bereit hängt. Bei der Arbeit mit Mikroorganismen ist Hygiene oberstes Gebot. Ich hole meine Bakterienkulturen aus dem Brutschrank, setze mich ans Mikroskop und beginne mit der Klassifizierung. Plötzlich zucke ich erschrocken zusammen, als sich eine warme Hand auf meine Schulter legt. Ich fahre herum und blicke in das Gesicht meines Teamchefs. Er ist ein gut aussehender Mann mit rotblondem Haar und stahlblauen Augen. Meine Eltern würden ihn wegen seiner akademischen Ausbildung und seinem Portemonnaie als eine passable Partie bezeichnen. Ich mag ihn, aber es kribbelt nicht.
«Du bist früh dran, Julia! Hast du schlecht geschlafen?»
Wie kommt er denn darauf? Sehe ich etwa fertig aus?
«Ich habe tatsächlich nicht so gut geschlafen. Ich bin aber früher dran, weil es heute mit dem Fahrrad einfach schneller ging, als ich dachte. Sieht man mir das an, dass ich schlecht geschlafen habe?»
«Nein, nein, keine Sorge, du siehst blendend aus! Wie immer!»
Simon strahlt mich an. Will er jetzt mit mir flirten?
«Danke!», antworte ich verlegen.
«Was ich dich fragen wollte, hast du Lust, mit mir heute Mittag Essen zu gehen?»
Ich habe mich also nicht getäuscht, es war ein Flirtversuch. In meinem Kopf wäge ich ab. Ich mag ihn und bei einem unverfänglichen Essen ist nichts dabei. Außerdem ist er eine gute Partie und vielleicht entwickelt sich da noch mehr von meiner Seite. Andererseits könnte es schlechte Stimmung im Team geben, wenn ich etwas mit dem Chef anfange und wenn er dann mehr will, als ich bereit bin zu geben, verkompliziert dies auch das Arbeitsverhältnis zu Simon.
«Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, Simon!», antworte ich schließlich.
«Keine Angst, ich will dich nicht gleich vernaschen, es handelt sich lediglich um ein Essen.»
Ich erröte bei dem Wort ‘vernaschen’. Als ob ich daran gedacht hätte! Aber vielleicht denke ich tatsächlich zu kompliziert.
«Also gut! Wo wollen wir denn hingehen?»
«Ich dachte ans ‘Badlucci’. Magst du Italienisch?»
Ich nicke. Das Balducci klingt vernünftig – ein gutes aber nicht zu abgehobenes Restaurant.
«Gut, dann treffen wir uns einfach um halb zwölf an meinem Auto in der Tiefgarage, abgemacht?», fragt er und kann nur mit Mühe das Strahlen in seinem Gesicht zurückhalten.
«OK.»
Offensichtlich möchte Simon genauso wie ich vermeiden, dass die anderen Mitarbeiter etwas von unserer Verabredung bemerken. Er verzieht sich wieder in sein Büro und ich widme mich meinen Bakterien. Zwei Stunden später herrscht bereits reges Treiben im Labor, als mich Simon zu sich winkt.
«Telefon für dich, Julia!»
Verwundert gehe ich auf ihn zu. Wer ruft mich denn heute auf der Arbeit an? Mein Handy habe ich ausgeschaltet, weil es nicht erwünscht ist, diese Geräte während der Arbeitszeit zu verwenden. Simon reicht mir den Hörer.
«Julia Graf! Hallo?»
«Hey Julia!»
Oh nein! Diese Stimme erkenne ich sofort. Es ist meine jüngere Schwester Tamara.
«Was fällt dir ein, mich auf der Arbeit anzurufen?», fahre ich sie wütend an.
«Na ja, wenn ich dich zu Hause anrufe, gehst du ja nicht ran, oder legst gleich wieder auf, bevor ich nur ‘Piep’
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