Gegenwinde
plötzlich nicht mehr neun Jahre alt, ich hatte das Gefühl, ihn noch an meinem Oberkörper zu spüren, im ersten Sommer seines Lebens in der Heide von Fréhel, Hand in Hand mit Sarah, meine Lippen auf seinem noch weichen Schädel mit den wenigen schwarzen Härchen und dem Geruch nach geronnener Milch, Lakritz und süßer Seife. Ich küsste ihn auf die Stirn, löschte das Licht und schloss die Tür. Manon schlief erst spät am Abend ein, ein oder zwei Stunden schaute sie mir zu, dann hatte sie genug, sie fiel einfach um.
Um drei Uhr morgens stapelten sich die Kartons in der Garage, abgesehen von den Zimmern der Kinder wirkte das Haus etwas leer, aber alles war an seinem Platz: Die Geräte waren angeschlossen, die Werkzeuge im Schuppen, Kochtöpfe und Teller in den Schränken. Die Einrichtung meines Zimmers bestand nur aus einer Matratze, die auf dem Boden lag, und einem Gartentisch, den ich zu meinem Schreibtisch gemacht hatte. Die Glastür ging auf das mit der Nacht verschmolzene Meer und den sternenbesäten Himmel hinaus, wenn man sie öffnete, waren die Wellen so nah, dass sie an die Hauswand zu schlagen schienen. Der Garten sah unwirklich milchig aus, doch das bleiche Licht der Straßenlampen war trügerisch, ich wusste, am Tag würde ich stundenlang Unkraut jäten, die strohtrockenen gelben Flecken aus dem Rasen entfernen, die Büsche, die wenigen Bäume und die kränkelnden Rosenstöcke schneiden müssen. Mein Rücken würde leiden, es wäre eine undankbare Arbeit, deren Ergebnisse erst in ein paar Jahren sichtbar würden, wenn ich alles umgegraben und gesät, wenn ich Bambus, Kamelien, vielleicht eine Mimose, ein oder zwei Nadelbäume, einen japanischen Ahorn gepflanzt hätte und all das gewachsen wäre wie der Efeu auf den Mauern, die das Grundstück umgaben, wenn alles mit zartem Grün, schmucken Blumen, Wein, Glyzinien und Flieder überzogen wäre; ich konnte es kaum erwarten, mich ans Werk zu machen, die Erde unter meinen Nägeln zu spüren, mit meinen Fingern durchs Gras zu fahren wie durch feuchtes Haar, die Insekten wimmeln zu sehen und, ich weiß nicht warum, so etwas wie einen Geschmack von Humus und Wurzeln auf der Zunge zu haben.
Im Nachbarhaus ging ein Licht an. Es war eine kleine, sonderbare Hütte, vollkommen ebenerdig, und ich hätte nicht viel darauf gewettet, dass die Wände bei Sturm standhalten würden. Eine Frau erschien, sie war blond und alterslos, ihr Nachthemd schlotterte um ihren schmalen Körper. Dann sah ich ihre Silhouette in der Küche hantieren, in den Schränken kramen, Wasser zum Erhitzen in die Mikrowelle stellen. Nach ein paar Minuten kehrte sie ins Licht zurück, die Nase an die Scheibe gedrückt, tauchte sie ihre Lippen in eine dampfende Tasse. Hinter ihr öffnete sich eine Tür ins Wohnzimmer, und man konnte das Blinken eines kümmerlichen Tannenbaums, aus Plastik wahrscheinlich, erkennen. Dafür war es noch viel zu früh. Sie schaute zu mir auf, und unsere Blicke kreuzten sich. Jetzt sah ich sie besser, sie mochte vierzig Jahre alt sein, vielleicht etwas älter, vielleicht etwas jünger, es war schwer zu sagen, ihr Gesicht wirkte müde und abgespannt. Ohne mir etwas dabei zu denken, winkte ich ihr zu, und meine Hand blieb eine Weile in der Luft stehen. Sie antwortete mit einem vagen Lächeln, bevor sie ihre Tasse abstellte, dann wurde das Fenster wieder dunkel, nur die roten und grünen Lichter blinkten schwach. Auch wenn es noch in weiter Ferne lag, würde Weihnachten schließlich kommen. Ich würde einen Baum kaufen, ihn schmücken, alle möglichen Geschenke darunterlegen müssen. Eine gute Figur machen, festlich gestimmt sein. Es wäre das zweite Mal ohne Sarah. Plötzlich schien sich eine große Stille auf das Haus zu senken. Ich machte eine letzte Runde durch die Zimmer, löschte die Lampen, stellte die Heizung höher, und dann schlüpfte ich unter die Bettdecke. Der Schlaf würde noch lange auf sich warten lassen, obwohl die Nacht sich schon dem Morgen zuneigte, doch das hatte nichts zu bedeuten, war erst einmal ein gewisses Stadium erreicht, blieb die schiere Müdigkeit, man sank auf den Grund. Ich schloss die Augen. Alle möglichen kleinen Geräusche stiegen aus dem Erdgeschoss auf, regneten vom Dach. Die Welt war für immer da und vibrierte leise.
Die folgenden Tage wirkten auf mich wie ein Versprechen, das Leben sah nach Ferien aus, die Kinder schliefen lang, standen ohne Murren und Tränen auf, und die Stunden zogen vorüber wie ein langsam wandernder
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