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Geh aus, mein Herz

Geh aus, mein Herz

Titel: Geh aus, mein Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ake Edwardson
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hören würde. Sie hatte gesagt, was für furchtbare Schmerzen es ihr bereite, so zu liegen, und er hatte ihr zwei weitere Decken gebracht. Sie hatte gesagt, dass sie pinkeln müsse, und er hatte ihr eine verrostete Waschschüssel gebracht, das als Klobecken dienen musste, und nach dem ersten Mal machte es ihr nichts mehr aus, wenn er ihre Hosen herunterzog und ihren Unterkörper ein wenig anhob. Es hatte nichts Sexuelles, sie nahm nichts wahr.
    Es war so verdammt kalt hier drinnen. Das eine Fenster dort schien die ganze Zeit offen zu stehen, und Kajsa Lagergren spürte, dass sie eine Erkältung bekam. Es kitzelte in der Nase, und als er ihr Wasser brachte, fiel ihr das Schlucken schwer. Es wäre eine Katastrophe, wenn ich Fieber kriege, dachte sie und versuchte sich einzureden, dass sie nur wegen der Kälte zitterte. Er hatte kein Fenster geschlossen, als sie ihn darum gebeten hatte.
    Die Geräusche draußen, sie waren das Schlimmste. Sie konnte nicht viel hören, aber sie hörte in langen Intervallen Autos vorbeifahren und etwa hundert Meter entfernt etwas, das wie eine Straßenbahn klang. Das Leben dort draußen ging weiter.
    Sie könnte sich in der Nähe der Pizzeria befinden, aber es könnte auch irgendwo anders sein. An der Polizeihochschule hatten sie ein Rollenspiel in ähnlichen Situationen geübt, aber hatte sie an dem Tag gerade gefehlt? Was würde das jetzt auch bringen? Da er nicht reden wollte, konnte sie auch nichts aus ihm herauslocken. Noch nicht jedenfalls, und wenn sie zu schwach wurde … Aber sie wollte nicht schwach werden, und wenn sie laut schrie, wie sie es anfangs getan hatte, würde er wieder mit dem ekelhaften Lappen kommen und ihn nicht mehr wegnehmen. So viel hatte sie begriffen, ohne dass er es ausgesprochen hatte.
    Jetzt hörte sie es wieder, das Rauschen der Straßenbahn, und sie fragte sich, wo zum Teufel Ard und Boursé steckten; selbst Babington wäre ihr jetzt recht gewesen. Warum zum Teufel rissen sie nicht jede Tür zu jeder Wohnung in jedem Stadtteil auf, Hausdurchsuchung in blanco ? Das war sie doch wohl wert, oder etwa nicht? War sie es nicht wert, dass die gesamte Polizei und das Militär Schwedens einberufen wurden und eine Suchaktion nach ihr starteten? Und dann fing sie an zu weinen, weil sie ahnte, dass sie hier sterben würde.

29
    Jonathan Wide war nicht der Typ, der mittendrin oder auf halbem Weg aufgab. So war es mit dem Gesicht, das er im Botanischen Garten gesehen hatte. Es interessierte ihn, je mehr er über die Geschichte dieses Gesichts hörte. Warum war es ihm bekannt vorgekommen, damals, beim ersten Mal? Er war dem Kind hinter dem Gesicht nie begegnet. Gunnar Thisenius. Er beschloss, dass es so hieß. Ihm war auch der Bruder nicht begegnet, Stig Thisenius, der am Rande einer kleinen Stadt auf Eisenbahngleisen zermalmt worden war.
    Wide musste später von dem Unglück gelesen haben. Er hatte in der Stadtbibliothek gesessen, hatte Mikrofilme an sich vorbeirollen lassen, bis seine Augen brannten, hatte die Zeit bis zu dem Ereignis zurückverfolgt. Ja. Es könnte stimmen. Ungefähr zu der Zeit, als er in die Stadt gezogen war, hatte die Lokalzeitung eine Art Kampagne für sicherere Bahnübergänge und besseren Schutz der Menschen gestartet. Da gab es Fotos von Unfallopfern, Verletzten. Wide wunderte sich, dass es so viele waren, und fragte sich, was für ein Gefühl es für die Angehörigen sein mochte, wenn das Entsetzen noch einmal an die Öffentlichkeit gezerrt wurde. Vielleicht war es für eine gute Sache.
    Als Kind hatte Wide alles gelesen, was ins Haus kam. Das war nicht viel. Er musste diese Berichte gelesen haben und davon ergriffen worden sein. Davon war er überzeugt. Wenn es Gunnar Thisenius war, dem er als Erwachsenem begegnet war, dann hatte das Gesicht dieses Mannes seine Grundzüge behalten, aber Wide war nicht mehr ein Zeuge der Wahrheit: Seitdem hatte er zu viele Bilder gesehen. Die Züge vermischten sich.
    Das reichte jedoch noch nicht. Er musste das Gesicht in einem anderen Zusammenhang gesehen haben. Vielleicht in seinem früheren Dienst bei der Polizei?
    Er hatte noch etwas in der Bibliothek getan. Das Telefonbuch lag vor ihm, aber mitten in der Bewegung hielt er inne. Kajsa Lagergren fiel ihm ein und warum er sie nicht auf dem Heimweg von Ard zu Kaffee, Tee, Wein oder Whisky eingeladen hatte, zu Tom Waits oder Puccini, für ein Weilchen. Eine Stunde, um näher miteinander bekannt zu werden. Wann würde es ein nächstes Mal geben? Früher oder

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