Geheimes Verlangen
küssen wollte«, sagt er, »das wird später kaum möglich sein.«
Sie zögert, sieht ihn mit einem leeren Lächeln an, drückt kurz seine Hand. Sie liebt diesen witzigen Zug an ihm – den kaum jemand hinter seinen emaillekühlen Augen vermuten würde. Ach, sie möchte, dass das ganze Universum weiß, wie sehr sie ihn vergöttert. Wenn doch jeder lebende Mensch wüsste, dass er an ihrer Schulter geschlafen hat. Sie ächzt danach, ihn zu berühren, würde alle anderen Worte für die Freiheit hergeben, seinen Namen auszusprechen. Das Schweigen, das sie sich auferlegt hat, um ihn zu schützen, lastet auf ihr wie Blei, droht sie wie ein Knebel zu ersticken. Unvereinbare Wünsche: Das ist der ebenso einfache wie mörderische Mantel, der das merkwürdige Halbleben verhüllt, das sie miteinander teilen. Diesen unauflösbaren Widerspruch gilt es, so gut zu ertragen wie die räumlichen Trennungen, die langen Phasen der Abwesenheit, die Streitigkeiten, zu denen es zwischen ihnen kommt, wenn die Spannung zu groß wird. »Auf geht’s«, sagt sie und schiebt ihn sanft zur Tür.
Es ist eine jener Partys, wie er sie ständig besucht, zu denen er sich selbst überreden muss, auf denen er fast jeden und jeder ihn kennt. Sollte er sich bei einem solchen Anlass langweilen, würde er die Gastgeber niemals dadurch beleidigen, dass er dies zeigt: Er steht am Ende des Raumes – die Höflichkeit selbst -, wo sich seine Bekannten in Zweier- und Dreiergruppen mit ihm unterhalten. Dabei lacht und nickt er unentwegt, kennt alle Namen, zeigt sich stets interessiert, ist nie allein. Sie hingegen ist wie verwandelt. Sie kann diese Art von Partys nicht leiden. Deshalb zeigt sie sich im Gespräch kurz angebunden, ihre Kleider sind aus der Mode, ihre Frisur wirkt unvorteilhaft, ihr Makeup ist zu schrill. Sie möchte nicht, dass er sie so sieht, deshalb hält sie sich, so gut es geht, von ihm fern. Draußen auf dem Balkon ist nicht nur die Luft besser, sie trifft dort auch zufällig ein paar Freunde. Die Musik ist hier draußen gedämpft, und man braucht nicht zu schreien. Sie kann ihn aus dem Augenwinkel durch ein Fenster sehen. Der Balkon bietet einen prachtvollen Ausblick auf die funkelnde Stadt und die wie hingegossenen in der Ferne glitzernden Vorstädte, doch weite Ausblicke haben sie noch nie beeindruckt. Sie mag vor allem Details – sie richtet den Blick lieber in exklusive Welten, als sich von einem gewaltigen Spektakel gefangen nehmen zu lassen. Ihr fällt eine Ameisenstraße auf, die einen gepflasterten Gartenweg kreuzt, ein Kratzer im Lack eines Autos, die makellose Symmetrie seiner Lippen. Flughunde schießen durch den grauen Himmel. Selbst die Schlüssellochnasen der Tiere sind zu erkennen, die lüsternen Augen. Sie lauscht auf Gesprächsfetzen, bewundert Kleider, bekundet ihr Mitgefühl, kommentiert den Namen eines neugeborenen Babys. Man stellt ihr Fragen, und sie antwortet. Nichts von alledem bedeutet ihr irgendetwas. Sie betrachtet ihn durch die Glasscheibe – nur ihn. Ihre Augen finden ihn auf der Stelle. Sie muss an die vielen Monate denken, in denen sie nur über ihn sprechen konnte, da jedes Gespräch, in dem sein Name nicht vorkam, eine Verschwendung von Worten war, ihre Toleranz strapazierte. Jetzt kann sie von anderen Dingen sprechen, doch alles ist so belanglos. Nichts ist so wichtig wie die Wunde, jenes Gefühl der Trauer, das in ihr schwärt. Sie sehnt sich danach zu reden, doch was soll sie sagen? Er hat mich einmal geliebt, doch das ist vorbei: Keine Ahnung, was ich ihm jetzt bedeute. Das ist nichts, worüber sie mit anderen reden kann. Wahrscheinlich wird nie jemand erfahren, dass sie ihn von oben bis unten kennt, dass ihre Hände nach ihm gerochen haben, dass ihre Katze um seine Beine gestrichen ist, dass sie gehört hat, wie er flüsterte: Mach die Augen auf. Er steht in dem Ruf, reserviert zu sein – sie könnte das ändern, tut es aber nicht. In letzter Zeit ist ihr aufgefallen, dass viele Frauen ihn bewundern – er scheint davon nichts zu bemerken, doch das wird nicht ewig so bleiben. Er wird es gewiss rechtzeitig begreifen, und dann wird sie für ihn nichts weiter als eine Jugendtorheit sein, eine peinliche Erinnerung, die im Lichte spektakulärerer Eroberungen verblasst, und er wird nie mehr an sie denken und sich fragen, was er eigentlich an ihr gefunden hat.
Sie spürt, wie sie sich innerlich mehr und mehr von den Frauen entfernt, die sie aus Freundschaft in ihre Mitte genommen haben. Sie weiß die
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