Geheimes Verlangen

Verschwinden wollte sie ihn beschützen, ihn unerreichbar hoch auf ein Podest stellen, ihre Liebe vor weiteren Schlägen bewahren, ihm die Chance geben, in jene Welt zurückzukehren, die er um keinen Preis hatte aufgeben wollen. Ja, sie hatte nur den Wunsch gehabt, ihm zu beweisen, dass sie kein Opfer von ihm verlangt. Sie ist nicht gegangen, weil ihre Liebe für ihn erloschen war, sondern weil diese Liebe sogar noch zugenommen hat.
    Sie hat ihm alles gelassen: mit Ausnahme ihrer selbst.
    Letzten Endes hat sich alles immer nur um ihn gedreht.
    Nur unter Aufbietung aller Kräfte gelingt es ihm manchmal noch, sich ihr Gesicht vorzustellen. Ihre Stimme hat er schon vergessen. Er besucht Freunde, sitzt schimpfend im Auto und regt sich über andere auf, joggt am Fluss entlang. Er putzt seine Schuhe, geht zum Friseur, trifft sich abends in der Kneipe mit Kollegen. Er macht jeden Morgen das Bett, schüttelt die Kissen auf, legt sie sorgfältig übereinander, streicht die Laken glatt. Er versucht, nicht an sie zu denken. Gelegentlich sieht er sie plötzlich wieder deutlich vor sich: wenn jemand auf eine bestimmte Art geht, wenn er eine Redewendung hört, wenn ein Mädchen sich auf eine bestimmte Weise die Hand vor den Mund hält oder lacht. Dann sieht er unvermittelt wieder ihr schiefes Lächeln vor sich, ihre rauen Ellbogen, ihr gespielt schmollendes Gesicht. Dann sieht er wieder ihren Rücken, ihre flachen Schulterblätter, sieht, wie sie ihr Kinn auf ihr Knie stützt. Wenn er hingegen an sie denkt, dann sieht er sie nicht. Dann sieht er vielleicht einen Vogel, der auf kräftigen Schwingen hoch über der Erde dahinschwebt. Dieser Vogel ist weiß wie Schnee, weiß wie ein Blitz und hält niemals inne, er blickt nie nach unten, nimmt nicht zur Kenntnis, dass dort jemand steht, der sehnsuchtsvoll hinaufschaut. Dieser Vogel durchstößt furchtlos jede Wolke, verdrängt mit jedem Flügelschlag die Luft unter seinen Schwingen. Dabei sind die dunklen Augen des Vogels unbeirrt auf den Horizont gerichtet. Und der gequälte Mann auf der Erde hat noch nie ein anderes Lebewesen gesehen, das sich seines Zieles so absolut sicher ist. Es kommt der Tag, an dem er es aufgeben wird, hier auf der Erde nach ihr Ausschau zu halten – in der gewöhnlichen Welt – und sein Gesicht dem Himmel zuwenden wird.

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    1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2007
    Copyright © der Originalausgabe 2006 by Cameron S. Redfern
    Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlagillustration: buchcover.com/AntoniusRedaktion : Nike Müller KS · Herstellung: Str.
    eISBN : 978-3-894-80388-9
     
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