Geheimnis des Feuers
lernen. Die Schule ist immer nachmittags.« Lydia sah sie erstaunt an. »Warum erzählst du mir das?«, fragte sie. Sofia schloss die Augen und nahm in Gedanken Anlauf. Etwas Schweres zu fragen war genauso, wie wenn man einen weiten Sprung versuchen wollte. »Maria und ich möchten gern in die Schule gehen«, sagte sie.
Lydia kaute, was sie im Mund hatte, und wischte sich die Finger ab, ehe sie antwortete.
»Ihr braucht euch nicht die Mühe machen, in die Schule zu gehen«, sagte sie. »Ihr arbeitet schon so viel draußen auf den Maisfeldern. Ich möchte euch nicht zwingen etwas zu tun, was ihr nicht tun müsst.« »Aber wir möchten es gern«, sagte Sofia. Lydia sah sie immer noch verwundert an und dann auch Maria, ehe sie antwortete.
»Man muss nicht lesen und schreiben können um Unkraut zu jäten«, sagte sie. »Man braucht nicht rechnen zu können um die Erde aufzuhacken und Samen zu säen.« Plötzlich wusste Sofia nicht mehr, was sie sagen sollte. Wie konnte sie ihre Mutter dazu bringen einzusehen, dass sie etwas anderes wollten? Dass sie lesen können wollten, was auf einem Schild geschrieben stand, oder ihren eigenen Namen schreiben können.
»Der weiße Pfarrer möchte, dass alle Kinder in die Schule gehen«, sagte sie schließlich. »Vielleicht müssen wir ihm gehorchen.«
Sofia wusste, dass ihre Mutter großen Respekt vor weißen Menschen hatte. Das galt für alle in dem Dorf, in dem sie früher gewohnt hatten. Wenn ein weißer Mann oder eine weiße Frau etwas sagte, musste man genau zuhören.
Warum das so war, wusste Sofia nicht. Einmal hatten die Weißen in ihrem Land zu bestimmen gehabt. Aber so war es nicht mehr. Die Einzige, die sich nicht um die Weißen gekümmert hatte, war Muazena gewesen. Bei den Gelegenheiten, wenn weiße Menschen ihr Dorf besuchten, hatte sie sich am liebsten in ihrer Hütte eingeschlossen und war erst wieder hervorgekommen, wenn sie fort waren. »Wenn das so ist, müsst ihr natürlich in die Schule«, sagte Lydia. »Aber dann müssen wir eure Kleider flicken. Ich will nicht, dass meine Töchter mit zerrissenen Kleidern herumlaufen.«
Maria und Sofia beugten sich vor und berührten Lydias kräftige Arme mit ihren Händen. Das war ein Zeichen, dass sie sich sehr freuten. Erst hinterher, als Lydia hineingegangen war um das Nachtlager zu bereiten, liefen sie hinter die Hütte. Sie hielten einander an den Händen und begannen zu tanzen, zum Rhythmus der Trommeln, die von weit her erklangen.
Es war schon so dunkel, dass sie einander kaum noch sehen konnten. Aber Freude war etwas, das musste man nicht sehen können, um sie zu verstehen oder mit jemand anderem zu teilen. Genauso wenig wie Trauer und Schmerz.
Das hatten sie gelernt. Es gab nichts, was sie so gern mochten wie Tanzen. Und der schönste Tanz von allen, das war der Freudentanz. Niemand hatte ihnen jemals Tanzen beigebracht, das hatten sie schon immer gekonnt. Sofia dachte, es habe angefangen, als sie noch so klein war, dass sie noch nicht laufen konnte und auf Mama Lydias Rücken festgebunden war. Wenn Lydia mit den anderen Frauen getanzt hatte, hatten sich die Bewegungen und der Rhythmus auf Sofias Körper übertragen. Seitdem gab es ihn dort. Bei Maria war es dasselbe.
Sie tanzten, bis Lydia aus der Hütte kam und nach ihnen rief, sie sollten hereinkommen und sich schlafen legen.
Später, als Lydia und Alfredo eingeschlafen waren, lagen sie noch lange wach und flüsterten miteinander. »Wenn wir aber nun zu dumm sind«, sagte Maria. »Wir können doch nichts anderes als in der Erde hacken.« »Ich glaube nicht, dass wir dümmer als andere sind«, sagte Sofia und versuchte ihre Stimme überzeugend klingen zu lassen.
Aber im tiefsten Innern hatte auch sie Bedenken.
Früh am Morgen des nächsten Tages, bevor sie hinaus auf die Äcker zum Arbeiten gingen, saßen sie zusammen mit Lydia und flickten ihre Kleider. Lydia schüttelte erschöpft den Kopf.
»Besser wird es nicht«, sagte sie. »Ich muss mehr Körbe machen, die ich verkaufen kann. Ihr braucht beide neue Kleider.«
Am nächsten Tag gingen Maria und Sofia in die Schule. Sie hatten einander bei den Händen gefasst und ihre Schritte wurden immer langsamer, je näher sie der Schule kamen.
Es war ein längliches Gebäude aus Zement, Eidechsen krochen aus und ein in den Fugen, es gab keine Fenster, nur ein Blechdach auf einem hohen Holzbogen. Lino kam ihnen entgegengelaufen, als er bemerkte, dass sie auf dem Weg stehen geblieben waren und sich offenbar
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