Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
genannt, doch die Frau hatte Grace mit den Worten abgewiesen, sie sei ja viel zujung und die Angelegenheit sei ihr zuwider; einem unehelichen Balg auf die Welt zu verhelfen, damit wolle sie nichts zu tun haben. Auch in dem großen Entbindungsheim an der Westminster Bridge hatte sie es versucht, war jedoch auf eine Tafel mit dem Hinweis gestoßen, dass nur verheiratete Frauen zur Entbindung aufgenommen würden, und diese als Nachweis ihre Heiratsurkunde mitzubringen hätten.
So musste Grace es dem Schicksal überlassen, wann und wo sie ihr Kind zur Welt bringen würde. Sehr früh am vorhergehenden Morgen waren ihre Wehen mit einem Mal häufiger gekommen, und so hatte sie Lily Anweisungen für den folgenden Tag gegeben und sich zu Fuß zum nächstgelegenen Krankenhaus am Charing Cross aufgemacht. Dort wurde sie zwar abgewiesen, doch eine mitfühlende Schwester riet ihr, ins Berkeley House in Westminster zu gehen. »Wo auch gefallene Mädchen aufgenommen werden«, wie ihr die Schwester zugeraunt hatte.
Berkeley House lag nur ein kurzes Wegstück entfernt – ein hässliches Gebäude mit rußigen Mauern und geschlossenen Fensterläden –, doch als sie es erreichte, kamen die Wehen bereits in so kurzen Abständen, dass Grace schon befürchtete, auf der Türschwelle entbinden zu müssen, hätte man sie nicht rasch aufgenommen. Eine außen angebrachte Notiz wies darauf hin, dass nur unverheiratete Frauen, die ihr
erstes
Kind bekamen, aufgenommen würden, und erinnerte in schonungsloser Deutlichkeit daran, wasfür ein gefahrvolles Unterfangen eine Entbindung bedeutete:
Aufgenommene Patientinnen werden gebeten, dafür Sorge zu tragen, dass im Falle eines tragischen Ausgangs die Kosten für eine Beerdigung aufgebracht werden können. Das Hospital übernimmt keine Beerdigungskosten für Mutter oder Kind.
Grace war dankbar, dass sie nicht mit irgendwelchen Fragen konfrontiert, sondern sogleich in einen Raum mit sechs Betten geführt wurde, jedes nur durch einen dürftigen Baumwollvorhang vom nächsten getrennt und mit einer Holzkiste am Fußende versehen, die als Kinderbettchen herhalten musste. Weitere Möbel oder sonstigen Schmuck gab es nicht in dem Raum, außer einem großen Schwarzweißbild von Königin Viktoria an der Wand.
Grace sank auf das hinterste Bett in der Reihe. Sie hörte zwei Babys schreien und jemanden stöhnen, eine Frau flehte Gott um Beistand in der Stunde ihrer Not an. Dazwischen war die ruhige Stimme einer Hebamme zu vernehmen, die von Bett zu Bett ging und den in den Wehen liegenden Frauen Ermahnungen, Anweisungen und Zuspruch zuteilwerden ließ.
»Nun, Mary, es kann nicht mehr lange dauern«, sagte sie, während sie Grace untersuchte. Als Grace ihren Namen richtigstellen wollte, erhielt sie zur Antwort, alle Mädchen würden hier im Hospital Marygenannt, und die Hebamme würde mit Mrs Smith angeredet.
»Hast du ein paar Dinge vorbereitet?«, fragte Mrs Smith. »Hast du einen Schlafplatz für das Kind, wo es nicht zieht, und ein paar saubere Baumwolltücher, die man auskochen kann?«
Grace hatte bloß den Kopf geschüttelt.
»Hast du etwas zum Anziehen für das Kind? Windeln und Wolltücher? Jäckchen und Kleider?«, fuhr Mrs Smith fort. »Diese Dinge kommen nämlich nicht einfach mit dem Kind auf die Welt! Hast du denn gar nicht darüber nachgedacht, was es alles brauchen wird?«
Grace drehte das Gesicht zur Wand. Sie hatte nämlich, trotz ihres sich rundenden Bauchs, trotz ihres rudimentären Wissens über die Körperfunktionen, trotz dem, was vor neun Monaten passiert war, nie wirklich geglaubt, dass sie ein Kind erwartete. Wie hatte so etwas nur geschehen können? Es konnte doch nicht sein, dass sie da gar nichts mitzureden gehabt hatte?
Die Hebamme schnalzte mit der Zunge. »Wo wohnst du denn, Kind?«
»Ich habe ein Zimmer in Mrs Macreadys Mietshaus in Seven Dials«, brachte Grace zwischen zwei Wehen hervor.
»Gütiger Himmel!«, hatte Mrs Smith kopfschüttelnd ausgerufen. »Dort? In dem Elendsviertel?«
»Es ist ein sauberes Zimmer«, verteidigte sichGrace. »Nur ich und meine Schwester wohnen darin.«
»Hast du keine Familie? Wissen deine Eltern von dem Kind? Hast du dich an wohltätige Einrichtungen gewandt, die dich aufnehmen könnten? Gütiger Himmel, Kind, hast du überhaupt genügend Geld, um für eine Beerdigung aufzukommen, sollte es für dich oder das Kind zum Schlimmsten kommen?«
Grace hatte keine Lust, auf irgendeine dieser Fragen zu antworten, und so
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