Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
werden.«
»Oh nein, bitte glaub nicht, dass ich … «
Er lachte erneut und schüttelte den Kopf. »Ich mache nur Spaß. Natürlich nehmen wir eine Kutsche.« Er sprach mit einem Hoteldiener, der sich sogleich darum kümmerte. »Wo ist deine Schwester heute Morgen?«
»Sie ist wieder zu Bett gegangen«, sagte Grace. »Oder, ich sollte wohl sagen, sie ist gar nicht aufgestanden, weil wir letzte Nacht kaum geschlafen haben. Wir lagen stundenlang wach und haben geschwatztund einander von unseren Erlebnissen berichtet und überlegt, was wir nun machen werden. Und ich fürchte, Lily hat die komplette Obstschale leer gegessen.«
James lachte, wurde dann aber rasch wieder ernst. »Hast du ihr von dem bedauernswerten Ableben von … einem gewissen Herrn berichtet?«
»Habe ich«, sagte Grace, während sie in die Kutsche kletterten. »Und ich habe ihr auch erzählt, dass ich herausfand, wer er wirklich war.«
Es war eine denkwürdige Nacht für die beiden Mädchen gewesen: eine Nacht voller Geschichten, die alle anderen Geschichten in den Schatten stellten, und in der die beiden so viel gelacht und geweint hatten, dass sie irgendwann gar nicht mehr sagen konnten, welches Gefühl vorgeherrscht hatte. Grace lächelte bei der Erinnerung daran. »Jedenfalls konnte Lily heute sowieso nicht mitkommen, da sie keine Schuhe hat.«
»Ah«, sagte James und reichte ihr einen kleinen Umschlag. »Dann ist es ja umso besser, dass Mr Stamford zehn Pfund vorgestreckt hat, damit ihr euch schon einmal einige eventuell notwendige kleine Dinge des Alltags besorgen könnt.«
Grace nahm den Umschlag entgegen und dankte James mit übervollem Herzen. Es war unmöglich in Worte zu fassen, wie es sich anfühlte, mit einem jungen Herrn in einer Mietkutsche durch den Londoner Verkehr zu fahren und dabei zehn ganze Pfund ineinem grünen Samtmuff stecken zu haben! Grace wurde das Gefühl nicht los, dass jeden Augenblick jemand daherkommen und ihr sagen würde, es sei alles ein Irrtum gewesen.
Sie hielten vor einem hohen, schmucken Reihenhaus in Connaught Gardens, in dem Mrs Macready wohnte. Die alte Dame kam höchstpersönlich zur Tür und stieß beim Anblick der völlig veränderten Grace einen erstaunten Ruf aus.
»Mein liebes Kind!«, sagte sie und trat dann einen Schritt zurück, um sie besser in Augenschein nehmen zu können. »Na, da ist aber jemand aufgestiegen in der Welt! Kaum weg aus Seven Dials, und schon wird man ganz schick und elegant!«
Grace musste lachen. »Das stimmt aber für uns beide!«, sagte sie mit einem bewundernden Blick auf Mrs Macreadys spitzenbesetztes Kleid.
Sie wurden in den Salon gebeten, wo Grace James Solent vorstellte und erklärte, weshalb sie hier waren. Während Mrs Macready einer Kurzfassung der ganzen Geschichte lauschte, wurden ihre Augen vor Staunen immer größer und runder, und sie stimmte bereitwillig zu, die Papiere zu unterzeichnen, die James mitgebracht hatte.
»Aber natürlich unterschreibe ich, dass die Mädchen bei mir gewohnt haben«, sagte sie. »Zwei nettere Mädchen als die beiden hatte ich mein Lebtag nicht unter meinem Dach.«
Während James sich bedankte und die Unterlagen herausholte, blickte Mrs Macready Grace mit einem Augenzwinkern an und legte Zeige- und Mittelfinger aneinander, um anzudeuten, dass sie beide ein feines Paar abgäben.
Grace reagierte nicht darauf, zumal sie gar nicht gewusst hätte, wie. James war ihr sehr ans Herz gewachsen, doch sie hatte bisher nicht einmal zu denken gewagt, ein gebildeter junger Mann wie er mit hervorragenden Aussichten und aus einer erstklassigen Familie könne sie als standesgemäße Freundin in Betracht ziehen – schon gar jetzt, wo sie ihm die allerschlimmsten Dinge aus ihrem Leben anvertraut hatte, die es überhaupt zu wissen gab.
Mrs Macready unterschrieb mit ihrem ganzen Namen,
Jane Ebsworthy Macready
, in einer langsamen, sorgfältigen Handschrift. James fungierte als Zeuge, und dann wurde die Tinte mit Sand bestreut und das Dokument aufgerollt. Daraufhin küsste Mrs Macready Grace herzlich auf beide Wangen und ließ sie versprechen, bald wieder zu Besuch zu kommen.
Grace wollte gerade in die wartende Kutsche steigen, als die alte Dame sie noch einmal zu sich heranwinkte. Grace hatte es inzwischen eilig, zu Lily zurückzukehren, und sie wollte schon so tun, als hätte sie die Geste der alten Dame nicht gesehen; dann besann sie sich aber doch, entschuldigte sich bei James und lief noch einmal die Stufen
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