Gehirnfluesterer
der kleine Mann. Plötzlich fällt ihm ein, was sein Freund ihm erzählt hat. Die Mütze hatte seine Mutter gestrickt,
es war einmal ein Weihnachtsgeschenk gewesen.
Der Große breitet seine Arme aus, aus Hilflosigkeit, vielleicht will er auch seine Offenheit zeigen.
Und dann sagt er:
»Wann hast du mich je so rennen sehen?«
Der Kleine sucht nach einer Antwort, ringt nach Worten. Es fällt ihm nichts ein. Es ist nämlich so, dass der große Mann fast
180 Kilo wiegt. Sie sind seit langem befreundet, aber der kleine Mann hat den großen Mann niemals rennen sehen. Tatsache ist,
wie er selbst zugibt, dass ihm schon das Gehen schwerfällt.
Noch immer denkt der Kleine über eine Antwort nach. Je länger das dauert, desto mehr schwindet auch seine Wut. Bis er schließlich
sagt: »Na gut, nie.«
Es gibt eine kurze Pause, dann streckt der Große die Hand aus. »Na komm schon, lass uns zurückgehen.«
Und das tun sie denn auch.
Zurück im Restaurant entschuldigen sich der kleine Mann und sein Vater beieinander, und die drei, weiser, wenn auch nicht
weise geworden, setzen sich zu Tisch. Zum zweiten Mal. Über Wunder sprechen sie nicht, denken aber ganz sicher daran. Der
Große hat einige Mantelknöpfe eingebüßt, und die Wollmütze, die ihm seine Mutter geschenkt hatte, wird auch nie mehr dieselbe
sein. Doch irgendwie hatte er dafür etwas anderes, Besseres eingetauscht. Mitten in einer kalten Londoner Dezembernacht hatte
er so etwas wie Sonnenschein erzeugt.
Definitiv nichts, so denkt sich der kleine Mann, was irgendjemand sagt, hätte mich in dieser U-Bahn -Station dazu bringen können zurückzugehen. Keine zehn Pferde hätten mich so weit gebracht. Und doch hatte es der Große mit
einer simplen Frage zustande gebracht: »Wann hast du mich je so rennen sehen?« Und warum? Weil diese einfache Frage von jenseits
der Grenzen des Bewusstseins kam.
Ehrlich währt am längsten
Wie oft am Tag haben Sie das Gefühl, jemand will Sie zu etwas überreden? Etwas zu tun, etwas zu lassen, etwas zu kaufen, irgendwohin
zu gehen. Meine Frage betrifft den ganzen Tag, vom Aufwachen bis zum Abend, wenn Sie Ihren Kopf aufs Kissen legen. Zwanzig
Mal, vielleicht dreißig Mal? Das schätzen diemeisten Leute, denen diese Frage gestellt wird. Deshalb grämen Sie sich nicht, wenn Sie hören, dass das falsch ist: Tatsächlich
geht man davon aus, dass sich solche Situationen mindestens vierhundert Mal am Tag wiederholen. Klingt erschreckend, oder?
Denken wir einen Moment darüber nach. Worum geht es? Welche Einflussmoleküle dringen durch die Schlüssellöcher unseres Gehirns?
Zunächst ist da die Werbeindustrie. Fernsehen, Radio, Plakate, das Web. Wie oft am Tag sehen oder hören wir Werbung? Richtig.
Ziemlich oft. Und es sind noch viel mehr Signale, die ständig auf uns einwirken: der Kerl, der an der Ecke Würstchen zum Verkauf
anbietet; der Polizist, der den Verkehr regelt; das Sektenmitglied mit der Erlösungsbroschüre; Politiker, die uns weiß Gott
was versprechen; Verkäufer, die auf uns einreden. Ständig will uns jemand zu irgendetwas verführen. Ganz zu schweigen von
dem kleinen Kerl in unserem Kopf, der auch immer etwas von uns will. Wir sehen ihn nicht, aber wir hören ihn oft genug. Da
kommt einiges zusammen. Das alles nehmen wir kaum noch bewusst wahr. Deshalb denken wir ja auch, dass nur zwanzig, dreißig
Mal am Tag jemand etwas von uns will, und nicht mehrere hundert Mal. Und oft genug lassen wir uns davon beeinflussen.
Damit kommen wir zu einer grundsätzlichen Frage. Woher kommt die Kraft der Beeinflussung? Wodurch entsteht sie? Über die Entstehung
des Denkens ist schon viel nachgedacht worden, doch was wissen wir über die Entstehung des Umdenkens?
Stellen wir uns eine andere Gesellschaft vor – eine Gesellschaft, in der Zwang das hauptsächliche Mittel der Beeinflussung
ist und nicht Überzeugung oder Verführung. Wie sähe ein solches Leben aus? Wie würde es uns ergehen, wenn uns der Würstchenverkäufer
jedes Mal, wenn wir beschließen, keine Bratwurst zu kaufen, mit einem Baseballschläger hinterherlaufen würde? Wenn uns, sobald
wir ein Verkehrsschild missachten oder zu schnell fahren, ein Selbstschussapparat die Windschutzscheibe durchlöchern würde?
Wenn wir Konsequenzen dafür zutragen hätten, dass wir nicht die »richtige« Partei, die »richtige« Religion wählen, nicht die »richtige« Hautfarbe haben?
Manche dieser Szenarien kann man sich ohne
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