Gehorche mir!
ohne Murren so manchen Streik der U-Bahn hingenommen. Sie hatte sich alle Zeit der Welt gelassen, während sie dabei zusah, wie ein Model sich langsam und vorsichtig einen engen Lederhandschuh überstreifte. Sie hatte mit ihrer Mappe in Vorzimmern von Designern auf einen Termin gewartet und dabei Small Talk mit den Assistentinnen gemacht.
Leanne würde schon nichts passiert sein. Celia sah auf ihre Armbanduhr. Der Flieger war vor über einer Stunde gelandet. Sie machte sich Sorgen, ärgerte sich darüber, machte sich noch mehr Sorgen, und beschloss endlich, nicht länger zu warten, sondern ein Taxi zu nehmen.
Vielleicht lag Leanne mit Fieber im Bett und schlief. Sie erkältete sich leicht, weil sie so zierlich war und sich zudem immer viel zu dünn anzog. Hatte sie beim letzten Telefonat nicht etwas heiser geklungen? Anstatt hier sinnlos zu warten, sollte sie lieber schnellstens heimfahren und ihrer Freundin einen heißen Tee kochen.
Während der Fahrt schickte sie mehrere SMS an Leanne, nicht, weil sie ernstlich hoffte, Leanne würde doch noch antworten, sondern um sich abzulenken. Denn wenn sie nicht das Handy anstarrte, dann ertappte sie sich immer wieder dabei, wie sie zwanghaft die Gegenfahrbahn auf Anzeichen eines Unfalls absuchte.
Sie begann sich Vorwürfe zu machen, ohne so recht zu wissen, weswegen. Leanne hatte etwas Verletzliches an sich, das in jedem Menschen den Beschützerinstinkt weckte.
„Ich hätte sie nicht so lange allein lassen sollen“, murmelte Celia.
„Scusi?“
Sie zuckte zusammen. War sie etwa gar nicht in London? War sie in den falschen Flieger gestiegen und irgendwo anders in Italien gelandet? Aber dann hätte der Fahrer doch protestiert, als sie eine Adresse in Maida Vale angegeben hatte.
„Ich habe nur Selbstgespräche geführt. Achten Sie einfach nicht auf mich.“
„Geht klar, Signora.“ Der Taxifahrer grinste sie im Rückspiegel an. Seine schwarzen Augen erinnerten sie an Roberto.
Sofort wurde sie mitteilungsbedürftig. „In Mailand war das Wetter besser. Dort komme ich gerade her. Was hat Sie nach London verschlagen?“
Er erzählte ihr von dem Restaurant, das sein Cousin in Kensington eröffnet hatte, und von seiner großen Familie in Süditalien. Sie ließ sich von seinem italienischen Akzent in die Sonne zurücktragen.
Als sie angekommen waren, bestand er darauf, ihre vier Koffer und die drei Skizzenmappen bis in den fünften Stock zu tragen. Sie gab ihm ein großzügiges Trinkgeld, und er revanchierte sich mit Komplimenten und einem Gutschein für ein Freigetränk im Restaurant seines Cousins.
Celia sah ihm lächelnd nach, als er die Treppe hinunterging. Dann seufzte sie und schloss die Tür auf. Sofort bekam sie Herzklopfen. Was, wenn Leanne etwas zugestoßen war? Wenn sie sie tot in der Badewanne fand, den Fön in der Hand?
Celia schob die Koffer in den Flur und schloss die Wohnungstür. Trotz der vielen Fenster war es düster. Dunkelgraue Wolken zogen am Oberlicht vorbei wie müde Wale. Sie sah sich nach allen Seiten um und bibberte. „Leanne? Wo steckst du?“ Es war Juni, aber sie hätte am liebsten die Heizung aufgedreht.
Im Vorbeigehen hatte sie im Hausflur gesehen, dass einiges aus ihrem Briefkasten hervorquoll. Sie ging noch einmal hinunter. Briefe und Prospekte schossen ihr förmlich entgegen, als sie den Briefkasten aufschloss. Sie trug alles hoch und blätterte den Stapel durch, um zu sehen, ob etwas dabei war, das ihr weiterhalf, fand aber nichts. Jetzt brauchte sie erst mal etwas zu trinken. Am besten eine warme Milch.
Celia ging um den Tresen herum, der die offene Küche abteilte. Der Kühlschrank war nahezu leer, und das Wenige, was drin war, sah nicht besonders essbar aus: Welker Salat, Käse mit Schimmelhaube und ein Pasta-Rest, mit dem man einen Terroranschlag hätte verüben können.
Celia schlug die Kühlschranktür zu und schüttelte den Kopf. Sie war wütend und zugleich krank vor Sorge. Sie fühlte sich, als hätte man ihr ganz London unter den Füßen weggezogen.
Systematisch begann sie das Loft zu durchsuchen: Das Bad, die beiden Schlafzimmer, die Abstellkammer, doch sie fand keinen Hinweis, keinen Zettel, keine aufschlussreichen Spuren. Sie ging in den Wohnbereich zurück, streifte die Schuhe ab und ließ sich auf die dunkelbraune Ledercouch sinken. Ihr Blick fiel auf den Anrufbeantworter, der auf einem Beistelltisch zwischen der Couch und dem Sessel stand. Sie drückte den Abhörknopf. Es waren vierzehn Anrufe eingegangen, alle
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