Gehwegschäden
der Führhand und auch die schnellen Geraden mit der Schlaghand auf die Deckung des Gegners; er zielte auf die Handschuhe anstatt auf das Gesicht. Er wollte niemandem wehtun. Nicht aus einer Angst heraus, der Geschlagene könne wütend werden und im Gegenzug ihn, Frantz, verletzen oder ihm wehtun. Nein, es war ein überzogener Altruismus gewesen, schien es Frantz, wie eine scheinheilige Bergpredigt. Denn warum stellte er sich dann in einen Ring? Bis er zu begreifen glaubte, dass etwas nicht stimmte in diesem Verhältnis aus Geben und Nehmen. Dass ihm etwas aus der Balance geraten war, dass er diese Balance nie gehabt hatte. Im Leben, fand Thomas Frantz, sollte man doch mehr geben als nehmen. Ein Defizit in diesen Zeiten, wie er feststellte. Thomas Frantz, dieser Hüne, hatte geglaubt, er könne die butterweiche Kinderseele in seinem Körper wie in einem Kokon aus Gewebe und Muskeln schützen. Aber das funktionierte in einem Ring nicht. Auch wenn er es mit schwächeren Gegnern zu tun hatte, die er ohne Mühe hätte verdreschen können, steckte er immer nur ein. Zunächst zollten sie seiner Gestalt durch große Vorsicht einen gewissen Respekt. Aber sobald sie merkten, dass Frantz von seiner Kraft und Masse gar keinen Gebrauch machte, schlugen sie umso öfter und härter zu. Bis es Frantz zu bunt wurde. Dann unterbrach er den Kampf und nuschelte seinem Gegner durch den Mundschutz zu, dies sei ein Sparring und er möge seine Schläge bitte besser kontrollieren. Bis er einmal einem Mann gegenüberstand, der von den anderen Schachboxern The Snake genannt wurde.
Er kam vom Tae-Kwon-Do. Er hielt seine Fäuste nicht wie die anderen, Rechte am Kinn, Linke vor dem Körper, sondern streckte beide Arme fast waagerecht nach vorne und drehte die Handrücken zur Decke; so hielt er den Gegner auf Abstand. Seine Bewegungen hatten tatsächlich etwas Schlangenhaftes. Zudem war er Rechtsausleger. Er boxte sparsam und abgezockt, bewegte sich nur lauernd und wartete, bis Frantz in seine Fänge lief. Dann schlug er blitzschnell und sehr hart zu. Frantz sah Sterne. Die Erschütterung, wenn Snakes Faust an seinem Kopf eintraf, schmerzte ihn. Frantz wurde wütend. Aber er hatte gelernt, seine Emotionen im Ring zu kontrollieren. Er drehte das Spiel um. Er stand reglos in der Ringmitte, bis Snake die Aktion eröffnete und in Frantz hineinlief. Frantz verpasste ihm einen trockenen Haken mit der Linken zur Schläfe. Plötzlich lag Snake am Boden. Er war umgefallen wie ein Sack Kartoffeln. Frantz erschrak. Er hatte ihn nicht einmal hart getroffen. Sofort entschuldigte sich Frantz, half ihm auf, und im weiteren Verlauf der Runde, in der Snake sehr vorsichtig boxte, bot ihm Frantz mehrmals die halboffene Deckung an, als wolle er Snake die Gelegenheit geben, die Balance wiederherzustellen. Erst sehr viel später, er war längst zu Hause und saß lesend im Sessel, empfand er eine heimliche Freude. Kindlicher Stolz durchfuhr ihn. Er hatte zum ersten Mal in seinem Leben jemanden niedergestreckt.
An den Säcken, Maisbirnen und Wandpolstern stehen die Schachboxer und üben den linken Körperhaken. Man hört sie stöhnen, schubweise Luft aus Nase und Hals stoßen, man hört das dumpfe, helle, klatschende Geräusch auf Leder treffender Hände. Man hört Jesus. Wie er flucht und anfeuert und lacht. Caramba, muchacho! Man hört tiefe, schrille, giftige Kehllaute und Daniels Kommandos.
»Und … Schlag!«
Nur Thomas Frantz übt einen anderen Schlag.
»Und … Schlag!«
Er hat sich in den rechten Kopfhaken verbissen.
»Und … Schlag!«
Wie ein Besessener schlägt er zu. Wie ein Berserker drischt er auf den schweren Sack ein, immer wieder auf die gleiche Stelle. Auf die imaginierte Schläfe seines Gegners.
»Und … Schlag!«
Er ist noch etwas größer als er, dieser Gegner, stellt Frantz sich vor. Er versucht, den Effet des Schlages aus der Drehung der Schulter und der Hüfte zu holen. Gleichzeitig legt er, allen Belehrungen Daniels zum Trotz, so viel Arm- und Schulterkraft in den Schlag hinein, wie er nur hat. Thomas Frantz stößt dabei einen Stimmlaut aus. Er entlädt sich im Moment der auftreffenden Faust. Er spürt, welche Energie er freisetzt.
»Und … Schlag!«
Nach den Schlägen der Schachboxer rasseln die Ketten über den Säcken. Thomas Frantz spürt die Wucht seines Schlags, er ist fasziniert von der Kraft dieses Aufpralls, des Geräuschs, es ist ein Schlag wie ein Gesamtkunstwerk. Nur wenn alle Komponenten aufs Genaueste zusammenwirken,
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