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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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nach erfolgende Öffnung der Sinnesorgane, so tragisch im Widerspruch zu dem, was Bonnet selbst erlebte, eröffnete die Welt und die Fähigkeit, über die Welt nachzudenken. Aber das Bild sollte auch verdeutlichen, dass psychische Prozesse auf den Sinnesorganen, Nerven, Fasern und Muskeln beruhen. Für alles, was in der Seele geschah, musste es einen entsprechenden Vorgang im Organismus geben: für jede Wahrnehmung einen sensorischen Reiz, für jedes Gefühl eine Berührung im Körper, für jede Erinnerung eine Spur im Gehirn. Diese genaue Entsprechung zwischen psychischen und physiologischen Prozessen gab es laut Bonnet auch, als sein Großvater die Bilder sah. Der Ursprung, schreibt er, muss in »dem Teil des Gehirns gelegen haben, der mit dem Sehorgan verbunden ist«. 14 Die Minderung des Sehvermögens, die auch nach den Operationen am Star wieder aufgetreten sei, weise auf organische Veränderungen hin. Es sei nicht schwierig, fährt er fort, sich vorzustellen, dass verschiedene Nerven, die unter normalen Umständen Bilder in die Seele übertrügen, durch die Veränderungen von innen heraus gereizt würden und so visuelle Wahrnehmungen verursachten. Wenn gleichzeitig die Nerven, die das Urteilsvermögen unterstützen, »noch in ihrem natürlichen Zustand sind, wird die Seele diese Bilder durchaus nicht mit der Realität verwechseln«. 15 Etwas moderner ausgedrückt: Irgendwo auf der Strecke zwischen Auge und Gehirn spielen sich im Nervengewebe Prozesse ab, die dafür sorgen, dass die Sehnerven auch ohne Reize von außen aktiviert werden.
    Bonnet schrieb psychische Phänomene einer »gewissen Berührung bestimmter Nerven« zu. Viel mehr konnte er beim damaligen Stand neurologischer Kenntnisse auch nicht tun. In den anderthalb Jahrhunderten nach ihm erregte der Fall seines Großvaters von Zeit zu Zeit die Aufmerksamkeit von Autoren, die von ähnlichen Fällen gehört oder selbst solche Bilder gesehen hatten. 16 Der Mathematiker Marquis Pierre-Simon Laplace verwies 1814 auf Bonnet, und zwar in einem Abschnitt seines Essai philo-sophique sur les probabilites, der davon handelt, welchen Einfluss erinnerte oder fantasierte Bilder auf die Wahrnehmung haben können. Dieser Einfluss könne so stark sein, meinte er, dass illusorische Effekte entstünden, wie die Bilder von Bonnets Großvater oder die Visionen der Jeanne dArc. Der deutsche Physiologe Johannes Müller beschrieb 1826 seine eigenen Bilder. Der Genfer Philosoph Ernest Naville, ebenfalls Experte aus eigener Erfahrung, führte 1909 als Dreiundneunzigjähriger seine Bilder zur Demonstration der Behauptung an, ein idealer Gelehrter, der die gesamte Psychologie und die gesamte Physiologie kenne, sei in der Lage, wie in einem Buch alle psychischen Erscheinungen zu lesen, die in einem Individuum vorkämen, wenn man einmal annehme, das Gehirn wäre durchsichtig. 17 Dieser These hing auch Bonnet an: Eine vollkommene Übereinstimmung zwischen körperlichen und seelischen Prozessen bedeutet, dass das Wissen auf einem bestimmtes Gebiet auch Zugang zum anderen verschafft. Als Flour-noy aber 1902 Lullins Diktat veröffentlichte, musste er feststellen, dass Psychiater, Augenärzte und Psychologen noch nicht viel weiter gekommen waren als bis zur Vermutung, der Ursprung der Bilder liege in der Aktivierung bestimmter Nerven in einem unbekannten Teil des Gehirns. Das war nicht sehr viel mehr, als Bonnet 1760 bereits festgestellt hatte.
    DER NAME, DER TAUFTEXT
    ln Bonnets Beschreibung finden sich noch keine Spuren der Pa-thologisierung, die das Sehen von Bildern später erfahren sollte. Der Begriff >Krankheit< fällt nicht, die Bilder sind kein >Symptom<, Lullin ist kein >Patient<. Und er >leidet< auch nicht unter den Bildern. Bonnet nennt die Bilder nicht Halluzinationen, sondern vi-sions, Anblicke. Der Begriff >Bonnet-Syndrom< taucht 1936 zum ersten Mal auf. De Morsier, Nervenarzt in Genf, veröffentlichte in der Schweizerischen Medizinischen Wochenschrift einen kurzen Artikel über visuelle Halluzinationen, 18 in dem er den Versuch macht, anhand von sechs Fällen eine Typologie der Halluzinationen zu erstellen und diese mit unterschiedlichen Ursachen wie Hirnschäden, Augenproblemen, Gehirntumoren oder Psychosen zu verbinden. Beim fünften Fall handelte es sich um Madame R., vierundsiebzig Jahre. An einem Auge litt sie an Glaukom (zu hohem Druck im Augapfel), am anderen hatte sie grauen Star. Sie >sah< seit einem Jahr Personen, in Farbe und in ihrer natürlichen Größe,

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