Gekroent
Dunkelheit zu suchen war nicht anders, als sich mit den verborgenen Kräften der Bäume zu verbinden. Sie weigerte sich, an das zu denken, was Shannon gesagt hatte: dass die Bäume ihr nur zu gerne halfen und sie Eponas Auserwählte nannten. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Dunkelheit – auf Nacht und Schatten und die Schwärze, die einmal im Monat wie ein Mantel den Mond verhüllte.
Sie fühlte die Macht. Es war nicht der feurige Rausch, den sie aus Partholon kannte, wenn Eponas Segen sie berührt hatte. Aber die Macht war da und kam zu ihr.
Wie ein Gefäß, das sich langsam füllt, wartete Rhiannon, während das Kind in ihr heranwuchs.
I. TEIL
1. KAPITEL
Oklahoma
„Ein Sturm zieht auf.“ John Peace Eagle schaute mit zusammenge kniffenen Augen in den südwestlichen Himmel.
Sein Enkel hob kaum den Blick von seiner Playstation. „Grandpa, wenn du hier draußen Kabelanschluss hättest, müsstest du nicht immer den Himmel beobachten. Du könntest stattdessen den Wetter kanal gucken oder die Nachrichten, wie jeder andere auch.“
„Dieser Sturm kann mit normalen Methoden nicht vorhergesagt werden.“ Der alte Geheimnishüter der Choctaw sprach, ohne den Blick vom Himmel zu nehmen oder sich umzudrehen. „Geh jetzt. Nimm den Truck und kehre ins Haus deiner Mutter zurück.“
Nun sah der Teenager auf. „Echt? Ich kann deinen Truck nehmen?“
Peace Eagle nickte. „Ich lasse mich irgendwann die Woche von jemandem mit in die Stadt nehmen und hole ihn wieder ab.“
„Cool!“ Der Junge schnappte sich seinen Rucksack und umarmte seinen Großvater kurz. „Bis bald, Grandpa.“
Peace Eagle wartete ab, bis der Motor aufheulte und er hörte, wie sein Enkel mit dem Wagen langsam über die Schotterstraße davonfuhr. Erst dann fing er mit den Vorbereitungen an.
Rhythmisch schlug der Geheimnishüter die Trommel. Es dauerte nicht lange, da bewegten sich die ersten Schatten zwischen den Bäumen. Sie erschienen auf der Lichtung neben der Hütte, als wären sie von der ansteigenden Wucht des Windes dorthin geweht worden. Im schwindenden Tageslicht sahen sie aus wie uralte Geister, doch John Peace Eagle wusste es besser. Er kannte den Unterschied zwischen Geist und Fleisch. Als alle sechs bei ihm waren, sprach er.
„Es ist gut, dass ihr meinen Ruf erhört habt. Der Sturm, der uns heute Nacht trifft, ist nicht von dieser Welt.“
„Ist die Auserwählte der Göttin zurückgekehrt?“, fragte einer der Älteren.
„Nein. Das hier ist ein dunkler Sturm. Das Böse rührt sich.“
„Was sollen wir tun?“
„Wir müssen zur heiligen Lichtung und in Schach halten, was auch immer sich befreien will“, erwiderte Peace Eagle.
„Wir haben das Böse dort doch vor nicht allzu langer Zeit besiegt“,sagte der Jüngste der Stammesältesten.
Peace Eagle lächelte grimmig. „Das Böse kann niemals vollständig besiegt werden. Solange die Götter den Bewohnern der Erde die freie Wahl lassen, wird es immer jemanden geben, der sich für das Böse entscheidet.
„Das große Gleichgewicht“, sagte einer der Stammesältesten nachdenklich.
Peace Eagle nickte. „Das große Gleichgewicht. Ohne Licht gäbe es keine Dunkelheit. Ohne das Böse hätte das Gute kein Gegengewicht.“
Die Ältesten nickten zustimmend.
„Lasst uns auf der Seite des Guten arbeiten.“
Rhiannon hieß den Schmerz willkommen. Er bedeutete, dass es an der Zeit für sie war, wieder zu leben. Zeit, nach Partholon zurückzukehren und sich wiederzuholen, was ihr rechtmäßig gehörte. Sie nutzte den Schmerz, um sich zu fokussieren. Sie empfand ihn als Reinigung. In Eponas Dienste aufzusteigen war auch kein schmerzloses Ritual gewesen. Sie erwartete, dass Pryderi nichts anderes für sie vorbereitet hatte.
Die Geburt dauerte lange und war schwierig. Es war ein Schock für sie, sich mit einem Mal wieder der Muskeln und Nerven bewusst zu werden und der Krämpfe, die ihren Körper in immer kürzeren Abständen schüttelten, da sie so lange von ihm getrennt gewesen war.
Rhiannon versuchte, nicht daran zu denken, wie diese Geburt hätte sein sollen. Sie sollte von ihren Mägden und Dienerinnen umgeben sein. Sie sollte gebadet, verhätschelt und verwöhnt werden. Kräutertees sollten ihren Schmerz und die Angst stillen. Ihre Frauen hätten sie niemals alleine gelassen zum Zeitpunkt der Geburt, und der Eintritt ihrer Tochter in die Welt Partholons wäre von fröhlichen Feiern begleitet worden. Epona hätte ein Zeichen gesandt, um ihr zu sagen, dass die
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