Ausnahmezustand
Kairo, Dezember 2006
Das Teehaus, in dem ich vor beinah zwanzig Jahren der jüngste Stammgast war, hat sich erweitert, ohne Schaden genommen zu haben. Genau gesagt sind nur einige zusätzliche Plastikstühle in die enge Passage zwischen zwei verrußten Kolonialhäusern gestellt worden, aber an diesem Ort ist selbst bloßes Stühlerücken eine Kulturrevolution. Da der natürliche Geschmackssinn vor drei, vier Jahrzehnten verkümmert zu sein scheint, bedeutet Fortschritt in Kairo meist mit Adorno, Fortschritt zu verhindern. Bestimmt tauchen ab ein, zwei Uhr die müdesten Nutten Kairos auf, für eine letzte Cola oder einen ersten Kunden, während Umm Kulthum wie jede Nacht von «jenen Tagen» singt. Der Zauber des Teehauses genauso wie weltweit aller Gaststätten, die den Namen verdienen, besteht darin, daß nichts aufeinander abgestimmt ist und gerade wegen des Zufalls alles stimmt, die Einrichtung und das Dekor, die bei der Gründung schon abgenutzt gewesen sein müssen, das freundliche Personal, das dennoch zuviel berechnet, die kunstvollsten arabischen Orchester aus den quälendsten Lautsprechern, die Männer, die bei ihren Karten- und Brettspielen zu kleinen Jungen werden, die Frauen, die ebenfalls so tun, als seien sie noch jung, und vor allem das Lachen, das laute, glucksende, polternde, quiekende, heisere, schadenfrohe, selbstironische, diebische, verschmitzte, gutmütige, verzeihende Lachen, das man in Kairo öfter als in jeder anderen Stadt hört und nirgends in Kairo öfter als an einem Abend im Teehaus, glücklicherweise immer noch hört, muß ich schreiben, denn vor jeder Rückkehr fürchte ich, daß die Fee, die alles fügt, verschwunden sein könnte. Ein Eintrag in einem Reiseführer könnte genügen oder der Hinweis von einem der neuen Zeloten in den Zeitungen, die sich auf etwas besinnen, was niemalsexistierte, gehört doch zur Tradition in Kairo nicht der Puritanismus, aber die Prostitution. Unmöglich, daß eine Symphonie wie das Teehaus heute noch komponiert werden könnte. Es ist ja nicht komponiert worden, es war einfach da, ein Relikt schon an seinem ersten Tag. Für die Tochter, die mit ihrem Geburtstagsgeschenk ein Photo machen möchte, stellen sich sämtliche Gäste mitsamt dem Personal und den umliegenden Ladenbesitzern in Pose. Anschlieäend macht der Oberkellner das Photo von Vater und Tochter, wegen dem allein sich die zwanzigjährige Reise gelohnt hätte.
PARADIES IM AUSNAHMEZUSTAND
Kaschmir, Oktober 2007
Hausboot 1
Der
Paris Photo Service
, der auch Kodak-Filme verkauft, rudert vorüber. Die Berge, obwohl es sonnig ist, sehen aus, als habe sie der liebe Gott in Milch getaucht und zum Trocknen aufgehängt. Als nächstes bringt eine Schikara, wie die Gondeln in Kaschmir heißen, Lebensmittel ans Hausboot, das einheimische Freunde empfohlen haben. Es ist tatsächlich sauber und komfortabel, im britisch-kolonialen Stil wie alle achthundert schwimmenden Pensionen Srinagars, schwere, dunkle Möbel, Orientteppiche, wuchtige Sessel, allerdings auf indische Touristen ausgerichtet, nicht auf westliche, weil nahe an der Stadt, wo der Dal-See nicht breiter als ein Fluß ist. Das versprochene Erleben von Stille, Weite und schneebedeckten Bergen, die sich im Wasser spiegeln, fällt daher weniger majestätisch aus. Ich blicke auf Autos und Rikschas, mehrgeschossige Bürogebäude aus unverputztem Beton sowie einen Hügel mit einer Fernsehantenne darauf. Für Inder scheinen die fünfzig oder hundert Meter Abstand, die sie vom Straßenlärm haben, mehr als genug zu sein. Ich hingegen war gegen alle Vorsätze leicht enttäuscht, zumal die Abende auf der Bootsveranda so kalt sind, daß ich mich zum Schreiben ins Zimmer unter die Bettdecke verkrieche.
Mehr und mehr entdecke ich allerdings die Vorteile der Situation, in die ich geraten bin. Das Boot gehört einer alteingesessenen Familie, von deren zweiunddreißig Mitgliedern immer einer genau das besorgen kann, was ich gerade brauche, das ganze Spektrum an Meinungen, Forderungen und Wünschen, das Srinagar bietet, ebenso einen Fahrer, Umbuchungen oder eine SIM-Karte fürs Mobiltelefon. Die indische Karte funktioniert aus Sicherheitsgründen nicht. Um eine neue Prepaid-Karte zu kaufen, braucht man einen festen Wohnsitz und die Bewilligung der Armee. Nun muß die Nichte des Bootsherrn ein paar Tage auf ihr Handy verzichten. Viel scheint sie nicht zu telefonieren, jedenfalls sind außer den mitgeliefertenServicenummern mit Kurzwahl keine Kontakte
Weitere Kostenlose Bücher