Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
mittelschwere Verwundung, gerade ausreichend, um nach einigen Lazarettwochen für einen Heimataufenthalt beurlaubt zu werden (eine Tatsache, der ich übrigens meine Zeugung verdanke, wahrscheinlich in der Nacht zum 1. Februar 1917, als Deutschland, die USA herausfordernd, den uneingeschränkten U-Boot-Krieg eröffnete und damit endgültig den Weg zu seiner Niederlage bahnte).
Nach seinem Urlaub kehrte Erwin in den Schützengraben zurück, wo die letzten Reste seiner nationalen Gesinnung zusammenbrachen. Empört erkannte er, dass sich die sogenannten Kulturvölker im sinnlosen, brutalen Tötungswettstreit überboten, und wurde Pazifist. Aus der Kriegsgefangenschaft, in die er vor Verdun geraten war, nach Haus gekommen, überwarf er sich mit sämtlichen Verwandten, die ihre konservative Haltung hinter bildungsbürgerlichen Traditionen verbargen. Im Jahre 1919 rückte Vater noch weiter von seiner Familie ab und schloss sich der Unabhängigen Sozialdemokratie an. Schließlich trat er 1920 mit dem linken Flügel der USPD* zur KPD* über.
Als das geschah, war ich drei Jahre alt, hatte also ein Alter erreicht, in dem sich erste Lebenseindrücke zu verfestigen beginnen. Einer dieser Eindrücke war, dass Kriege die allergrößten Verbrechen sind und folgerichtig nur von schrecklichen Bösewichtern angezettelt werden. Dass Vater ein Todfeind dieser bösen Geister war, erfüllte mich mit Genugtuung. Ich bewunderte ihn, weil er sich mutig in die von Feinden wimmelnde Welt außerhalb unserer Wohnung wagte. Selbstverständlich war, dass sich unser Tagesablauf an ihm orientierte und er bestimmte, was zu tun und zu lassen sei. Zutiefst beeindruckte mich darüber hinaus, dass er die Fehler anderer Leute – der Großeltern, der Nachbarn, seiner sich in fernen Regionen bewegenden Kollegen – mühelos erkannte und deren Hintergründe aufzuzeigen vermochte. Für mich stand fest: Bald würden alle guten Menschen Vaters Unfehlbarkeit erkennen und sich zur Ächtung des Krieges und zum Kommunismus bekehren.
Nach dem Krieg bemühte sich Vater – darin nicht ganz undeutsch –, seine durch das Fronterlebnis gereifte Überzeugung theoretisch zu untermauern. Er las Bebel und den alten Liebknecht, dann Engels und schließlich Marx. Als er sich in deren Arbeiten einigermaßen auskannte, rief er sogleich einen Zirkel zum Studium des «Kapitals» ins Leben. Da schwoll mir die Brust: Mein Vater erklärte gewöhnlich Sterblichen die Gedanken dieses Wunderwerkes.
Unsere Mutter Charlotte hatte der kommunistischen Idee zunächst feindselig, zumindest aber ablehnend gegenübergestanden. Das änderte sich erst, als unser Vater sie durch seine nicht abreißenden Affären in die Hände des behäbigen, aber zuverlässigen Hans Baumgarten trieb (den Vater – zusammen mit der kommunistischen Idee – in die Familie eingeschleppt hatte). Hans war Metallarbeiter und strenggläubiger Kommunist, allerdings als bezahlter Funktionär nicht mehr mit den Arbeitern verbunden und, seit er von der Komintern als Kurier angeworben worden war, auch ohne sonstige organisatorische Bindung. Unter dem Einfluss ihres neuen Partners trat Mutter der Kommunistischen Partei bei, entdeckte ihre rhetorische Begabung und stieg ins politische Leben ein. Indes dauerte ihre offizielle Parteizugehörigkeit nicht lange. Zwei, drei Jahre bevor die Nazis an die Macht kamen, streckte die Komintern ihre Fühler nach ihr aus und stellte Charlotte als Dolmetscherin ein, entsprechend der Regel, nach der möglichst beide Partner einer Zweierbeziehung im Apparat sein sollten.
Soweit ich mich entsinne, wurde das Scheitern der elterlichen Ehe von uns Brüdern keineswegs als außergewöhnlich empfunden. Bis 1930 (da war ich 13) wurde die wachsende Entfremdung von Mutter und Vater von uns Jungs zwar wahrgenommen, jedoch sprachen wir nicht darüber, zum einen, weil wir wussten, dass sich Vater als Lehrer keine Seitensprünge erlauben konnte (den Terminus Seitensprung hatte Walter mir erklärt), zum anderen, weil Hans als Kominternkurier eine halblegale Wohnung besaß, die geheim gehalten werden musste. Als Mutter dann auszog und Vater sich ungehemmt seinen Besucherinnen widmete, meinten wir, erwachsen zu sein, auf familiäre Geborgenheit und ähnliche bürgerliche Hirngespinste verzichten zu können. Wir waren nachgerade stolz auf unsere Selbständigkeit und fühlten uns den Altersgenossen überlegen.
Mutter sahen wir von da an nur selten und meist in Begleitung von Hans Baumgarten, der uns
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