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Gemordet wird immer

Gemordet wird immer

Titel: Gemordet wird immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T Korber
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ausgewirkt. Nach kurzem Zögern holte er seinen Laptop heraus und schaltete ihn ein. Jeff und die Jungs hatten geschrieben, ein fröhlicher Gruß ohne weiteren Inhalt, den er schnell mit einem Scherz beantwortete. Er mochte sie alle miteinander, war sich aber sicher, dass sie ihn bald vergessen würden. Der Absender der zweiten Mail interessierte ihn schon mehr. Freudig erkannte Viktor den Namen seines Sensei. Als er die Nachricht öffnete, starrte er jedoch auf ein leeres Textfeld. Verdutzt runzelte er die Stirn, bis er begriff, was ihm sein Meister damit sagen wollte, und er musste lächeln. Die Leere war eine Frage, so umfassend, dass es nicht genug Worte für sie gab. »Ich weiß es nicht, Sensei«, murmelte er, drückte anschließend auf Senden und schickte eine leere E-Mail zurück. »Noch nicht.«
    Ein seltsames Geräusch ließ ihn den Kopf heben. Es klang wie das engagierte Quietschen der Matratze in einer Honeymoon-Suite, kam aber von draußen. Viktor ging zum Fenster und starrte in die wachsende Dunkelheit. Ein heftiger Schneeregen hatte eingesetzt und schraffierte die Dämmerung. Die schwarzen Fichten troffen vor Nässe. Davor sprang ein junger Mann Trampolin, splitterfasernackt. Viktor traute seinen Augen nicht, es konnte nicht mehr als zwei, drei Grad haben. Aber der dort sprang wild und unbekümmert, sein blasser Schwanz winkte fröhlich im Takt, seine Hände griffen in die Luft, sein Mund stand weit offen. Und jetzt war Viktor auch sicher, dass er ihn lachen hörte. Es war ein hemmungsloses Lachen, wild und begeistert. Er hatte ähnliche Schreie gehört von Surfern, die endlich die perfekte Welle erwischt hatten. In seltenen, in sehr seltenen Momenten hatte er selbst so geschrien.
    Die Schneeflocken wurden fester und setzten sich an die Scheibe, verwischten das Bild. Viktor drückte die Nase an das Glas, um mehr zu erkennen. Da sah er Tante Hedwig durch den Garten hetzen und zog sich zurück.
    Eine viertel Stunde später hatte er alle seine Habseligkeiten verstaut. Und es blieb noch immer eine gute halbe Stunde Zeit bis zum Abendessen. Sieben Uhr fünfzig; Viktor schüttelte den Kopf. Eine Weile saß er summend auf der Bettkante und trommelte mit den Fingern den Takt dazu auf sein Knie. Plötzlich sprang er auf. Er konnte es ebenso gut gleich hinter sich bringen. Schließlich war er deswegen hier. Es würde ihn schon nicht umbringen. Energisch stand er auf.
    Schon an der Zimmertür jedoch entschied er sich um. Runtergehen und sich von Onkel Wolfgang ins Anzeigenwesen einweisen zu lassen war zweifellos die bessere Idee. Er holte Schwung, um mit drei langen Schritten durch den Flur bis zum Treppenhaus zu gelangen. Aber wie von selbst wurde er langsamer, als gäbe es einen Widerstand, gegen den er nicht ankam, eine Verdichtung der Gravitation, oder doch einen Zweifel, der sich in ihm regte. Er blieb direkt vor Hannahs Zimmer stehen. Es half nichts; er kam nicht an ihr vorbei. Hatte es all die Jahre nicht geschafft.
    Mit einem Seufzer streckte Viktor die Hand aus und legte sie auf die Klinke. Noch konnte er zurück, konnte den Laptop anwerfen und eine Runde Mahjong spielen. Konnte Musik hören. Oder runtergehen und nach dem Trampolinspringer fragen. Er könnte Briefe schreiben. Den Tisch decken. Das Kaminbesteck reinigen. Viktor holte tief Luft, stieß die Tür auf – und brüllte.
    Eine Minute später stand Tante Hedwig neben ihm, ganz außer Atem vom Treppensteigen. »Meine Güte! Ist alles in Ordnung?«
    »Was soll das?«, blaffte er, die Stimme noch rau. »Was ist das hier für eine Scheiße?« Er wies auf das, was Hannahs Reich gewesen war. Jetzt sah es aus wie ein Showroom in einem Möbelhaus: Bett, Schrank, Nachttisch, Gardinen, alles wie aus dem Katalog, nett, adrett, steril und tot. Kein einziger persönlicher Gegenstand lag herum, nirgends eine Gebrauchsspur. Als ob es Hannah nie gegeben hätte.
    »Hübsch, nicht wahr?«, sagte Tante Hedwig. »Ich habe deiner Mutter damals geholfen, alles auszusuchen. Es hatte doch keinen Zweck, das alte Zeug zu behalten. Es hingen nur schmerzliche Erinnerungen daran. Und ein Gästezimmer ist so etwas Praktisches.«
    »Als ob ihr je im Leben Gäste gehabt hättet!«
    »Viktor!« Sie versuchte, ihm durch das Haar zu streichen.
    Er fuhr zurück. »Dreck!«
    »Also wirklich.«
    »Wo sind Hannahs Sachen?«, fragte Viktor. Er bemerkte, dass er zitterte, und hielt sich am Türrahmen fest. Seine Tante brauchte das nicht zu sehen. »Wo sind ihre Möbel, ihre CDs, ihre

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