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Gemordet wird immer

Gemordet wird immer

Titel: Gemordet wird immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T Korber
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Bücher, ihr ganzer Kram?«
    »Es gibt einige bedürftige Kinder, die sich sehr über die Sachen gefreut haben, Viktor.« Tante Hedwigs Ton wurde schärfer. Dann schrillte etwas in ihrer Schürze. Sie zog einen Küchenwecker hervor. »Ach Gott, mein Braten«, murmelte sie und machte auf dem Absatz kehrt.
    Unzählige Gedanken schossen Viktor durch den Kopf. Einer davon war auch, dass sein eigenes Zimmer offenbar nicht so schmerzliche Erinnerungen hervorgerufen hatte. Er schämte sich für seine Eifersucht. Sein Lachen war bitter. Na gut, hatten sie ihn eben weniger geliebt, was scherte es ihn. Er liebte sie ja auch nicht. Die alte blinde Wut stieg wieder in ihm hoch.
    Und dann fiel ihm ein, was er eigentlich vorgehabt hatte.
    Viktor ging zum Fenster und klopfte auf das Fensterbrett. An einer Stelle klang es hohl, sein Herz begann zu rasen. Seine Hände wussten noch genau, wie man das Brett anfassen musste, damit es aus seiner Halterung glitt und dabei möglichst wenig Gips herausrieselte. Hannah hatte es ihm selbst gezeigt, sie hatte gelächelt, als sie ihn staunen sah. »Das ist meine Schatzkammer«, hatte sie geflüstert. Und er war beeindruckt gewesen, damals, mit seinen dreizehn Jahren, voller Ehrfurcht vor dem Geheimnis.
    Im Grunde war das meiste uninteressant gewesen: ein Anhänger in Herzform, getrocknete Blumen … Mädchenkram halt, dazu ein Päckchen, das sie mit großer Geheimnistuerei behandelt hatte. Erst viel, viel später war ihm klar geworden, dass es sich wohl um Kondome gehandelt haben musste. Viktor lächelte, während ihm die Tränen über die Wangen liefen. Es hatte auch ein ganzer Stapel Briefe und Postkarten darin gelegen, die sie sorgsam mit einem Gummiband zusammengeschnürt hatte. Die meisten waren von Hannahs zahlreichen Freundinnen gewesen. Aber keiner von denen hatte sie ihr Versteck verraten, sondern nur ihm, Viktor, ihrem kleinen Bruder.
    Sie hatte ihn zurückgehalten, als er nach dem rosafarbenen Büchlein mit der Aufschrift »Bis hierher und nicht weiter« hatte greifen wollen. »Weil keiner weiter lesen darf, das ist nämlich mein Tagebuch.«
    »Dein Tagebuch?«
    »Du darfst es keinem verraten«, hatte Hannah verlangt, »nicht mal Mama und Papa.« Das hatte sie gesagt, wortwörtlich, und er hatte es versprochen.
    »Ich hab’s nicht vergessen, Hannah«, sagte er leise und hob das Brett aus seiner Verankerung. In dem Fach darunter lagen ein Reisewecker in Originalverpackung, eine Schachtel Batterien und ein Stapel gebügelter Taschentücher. Nichts weiter. Viktor raffte alles zusammen und schmiss es auf den Boden. Er fuhr mit den Händen in das Versteck, tastete jeden Winkel ab, jede Wand. Dabei war es offensichtlich: Das Fach war leer. Abgestaubt, gereinigt, frisch lackiert und leer.
    »Ihr Schweine«, flüsterte er. »Ihr verdammten Schweine.«
    Unten läutete ein harmonisches Glockenspiel. »Essen«, trällerte Viktors Tante. »Bitte zu Tisch.«

4
    Wolfgang und Viktor Anders schnitten schweigend ihr Fleisch.
    »Es ist ein wenig zäh«, entschuldigte Hedwig sich. »Ich habe vergessen, den Braten zu übergießen, weil …«
    Viktor schnitt und kaute und beobachtete dabei aus den Augenwinkeln den jungen Mann, der schräg gegenüber von ihm saß und auf seinen Teller starrte, kein Wort sagte und nur manchmal unvermittelt auflachte, ehe er mit verschmierten Fingern ein weiteres Stück Braten nahm, um es sich komplett in den Mund zu stopfen. Der Saft lief ihm übers Kinn.
    »Du wirst dich doch wohl an deinen Cousin Tobias erinnern«, sagte Wolfgang Anders spröde und griff zum Glas.
    »Tobias, äh, na klar«, erwiderte Viktor. Sicher, da klingelte was bei dem Namen. Er sah einen Kinderwagen am Rand der Terrasse stehen, später war da ein Kleinkind gewesen, das für sich allein im Sandkasten spielte, immer alleine, und das nie daran interessiert schien, in ihrer Bande mitzumachen. Damals hatte er nicht weiter darüber nachgedacht, war einfach froh gewesen, dass der Kleine nicht nervte. Heute saß ihm ein junger Mann von schätzungsweise achtzehn Jahren gegenüber. Tobias musste also damals acht gewesen sein. Acht, und immer noch im Sandkasten? »Tobias«, wiederholte er.
    Seine Tante legte lächelnd die Hand auf die ihres jüngeren Sohnes. »Tobias ist etwas Besonderes.«
    Wolfgang Anders schnaubte. »So kann man es auch ausdrücken.«
    »Wolfgang, bitte«, sagte sie mit gerunzelter Stirn. »Tobias ist ein erwachsener Mann, und wie jeder andere auch schätzt er es nicht, wenn man sich

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