Gemuender Blut
EINS
Der König schritt voran. An seinem Arm die Königin. Es folgten die Minister mit Damen, der Ortsvorsteher und der Pfarrer. Die Fahnen der Kompanien wehten im Wind, zur Hälfte aufgerichtet. Es war heiß. Der Gemünder Schützenzug bewegte sich wie die Fata Morgana einer Karawane am Rande der Festwiese entlang. Stumm. Nur unterbrochen durch das Klirren der Säbel an den Uniformen und vereinzeltes Frauenlachen.
An der Bordsteinkante zur Hauptstraße verfing sich die Königin im Stoff ihres Abendkleides, strauchelte und ging in die Knie. Die Menschen am Straßenrand raunten. Niemand kam ihr zur Hilfe. Ohne eine Miene zu verziehen, stand sie auf und glättete ihr Kleid. Den Riss im Taft ihrer Robe, durch den Stücke des Reifrocks zu sehen waren, ignorierte sie.
Der König schritt voran. Seine Orden klimperten. Das Königspaar und sein Gefolge stellten sich in der Mitte der Straße auf – Soldaten auf dem Exerzierplatz –, die Reihe wie an einer Schnur ausgerichtet, reckten die Hälse, strafften den Rücken. Bereit für die ehrenwerte Parade.
Die Königin öffnete ihre Handtasche und zog eine Sicherheitsnadel aus einer Mappe mit Nähzeug.
Als die Musik einsetzte und die Fahnen, Uniformen und Musikkapellen endlos an ihr vorbeidefilierten, war der Riss verschwunden, nicht mehr zu sehen. Aber er war da. Das wusste sie.
Mein Bruder aß immer. Jetzt gerade eine Ananas.
»Wo hast du denn die her?« Ich lehnte mich über den Biertisch und schrie Olaf die Frage über die Musik und das Stimmengewirr im Festzelt hinweg ins Gesicht.
Er kaute, hob eine Augenbraue und legte eine Hand an sein Ohr. »Es gibt hier Pommes, Currywurst und Reibekuchen. Wo hast du die Ananas her?«
»Mitgebracht«, quetschte er mit vollem Mund hervor. »Ich mache Diät!« Dann schob er ein Stück in meine Richtung. »Bier?« Olaf stand auf und strebte der Theke zu, ohne auf Antwort zu warten.
Am Nebentisch schunkelte sich eine Gruppe Frauen in Ekstase. Vermutlich ein Kegelclub.
»Ein Stern, der deinen Namen trägt …«, sangen sie und übertrafen die Festcombo zwar nicht an Tonsicherheit, aber doch erheblich an Lautstärke.
Ich schätzte sie auf mein Alter, erkannte aber keine von ihnen. Entweder waren sie nicht aus Gemünd, oder die Freundinnen meiner Kindheit hatten sich so verändert, dass ich keine Chance hatte, sie zu erkennen.
Der unterschiedliche Musikgeschmack war nicht das Einzige, was uns trennte. Während sie adrett, mit zweifarbig gesträhnten Kurzhaarfrisuren an ihrem jugendlichen Aussehen feilten, strahlte jeder Zug an mir die Gleichgültigkeit der Städterin aus, die sich in der Anonymität verstecken wollte. Ich hatte mich von Olaf überreden lassen, überhaupt hierhin zu gehen, und dann, kurz bevor wir losgingen, wahllos Jeans und T-Shirt aus meinem Kleiderstapel übergestreift.
Wo blieb Olaf nur? Von meinem Platz aus suchte ich ihn in der Menge, blieb an dem einen oder anderen Gesicht hängen, nickte, grüßte und lächelte. Den Mann neben mir bemerkte ich erst, als er mich ansprach: »Hallo, Ina.«
Vor mir stand Steffen Ettelscheid. Olafs bester Freund seit Kindertagen und Namensvetter meines Exmannes. Er war hochgewachsen, und die vielen kleinen Fältchen um seine Augen zeigten mir, dass er sich vor Sonne und Wind nicht fürchtete. Er schien sich über unsere Begegnung zu freuen. Ich hatte ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Dem Kind mit zerschlagenen Knien und dem Jugendlichen mit langen Haaren und jeder Menge Buttons, die seine Ansicht zur jeweils aktuellen Weltlage kundtaten, hatte ich oft genug die Tür geöffnet.
Hier stand ein erwachsener Mann vor mir. In seiner Schützenuniform sollte er Tradition und Ordnung ausstrahlen, aber ich kam nicht umhin zu denken, dass er irgendwie wie ein Rockstar aussah, der sich als Schütze kostümiert hatte. Wirre braune Locken fielen ihm bis auf die Schultern, und in seinen dunklen Augen blitzten Neugier und etwas Jungenhaftes auf. Er faszinierte mich, und ich konnte nichts dagegen tun. Unwillkürlich hielt ich nach Buttons Ausschau, entdeckte aber nur Orden der Schützenbruderschaft.
»Urlaub von der Domstadt?« Er lächelte mich auf eine Art an, die mich hoffen ließ, er sähe mir die neun Jahre, die ich ihm voraushatte, nicht an. Jetzt wünschte ich mir, ich hätte mehr Sorgfalt auf mein Äußeres gelegt. Dunkle Strickjacken waren bequem und so oder so faltenfreundlich. Sie waren nicht attraktiv.
»So ähnlich«, murmelte ich und war froh über die drei Gläser und
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