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Gemuender Blut

Gemuender Blut

Titel: Gemuender Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Pistor
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betrat den Garten. Es regnete. Es war ein warmer Regen. Er nahm sie auf und barg sie.
    Sie ließ ihr Nachthemd ins Gras gleiten. Nackt stand sie da, spürte die Frische der Luft, die Feuchte der Morgenwiese unter den Füßen. Ihre Fingerspitzen fuhren über die Konturen ihrer Hüfte und fühlten die weiche Haut ihres Bauches. Sie ließ die Lider sinken, konzentrierte sich auf das Prickeln unter ihrer Haut. Spürte den Bahnen auf ihrem Körper nach, die längst vergessene Hände auf ihr hinterlassen hatten. Ihre Brust hob und senkte sich unter tiefen Atemzügen. Ihr Herzschlag dröhnte gegen das Prasseln des Regens an, als ob er sich aus der Enge ihres Körpers befreien wollte. Wie von selbst hoben sich ihre Arme und zogen im Rhythmus einer inneren Melodie Kreise. Sie tanzte. Sie tanzte ihr eigenes Lied. Für den Augenblick hatte es sie gefunden, und sie kostete es aus. Der Regen streichelte ihre Haut wie die Hände eines erfahrenen Liebhabers. Sie schloss die Augen, wirbelte und sprang, flog durch den Garten. Ihr Atem peitschte, als sie auf die Erde sank.
    Sie lächelte. Sie war glücklich.
    ***
    Schon auf der Treppe hörte ich meinen Vater singen. Mit seiner klaren Tenorstimme bat er den Monat Mai, doch nun bitte alles wieder neu und vor allem grün zu machen. Für einen Moment blieb ich stehen und lauschte. Dann betrat ich seine Wohnung und schob leise die Küchentür auf.
    »Immer noch genauso viel Milch wie Kaffee und ohne Zucker?«
    Er hielt mir einen Becher hin und wies auf den Platz auf der Küchenbank unter seinem Fenster. Er hatte auf mich gewartet. Ich nickte ihm zu, hob die Tasse an und umfasste sie mit beiden Händen.
    »Danke, Hermann.«
    In seiner Küche roch es nach frischem Brot, den Kräutern, die auf der Fensterbank standen, und einem Hauch Waschmittel. Es roch nach zu Hause. Ich zog die Knie hoch und versteckte die Beine unter meiner Strickjacke. So hatten wir früher gesessen und die Probleme meines Teenagerlebens gewälzt. Bis Anneliese kam und seinen Witwerstand beendete. Meine Mutter war bei einem Autounfall gestorben, als Olaf zwei und ich zwölf Jahre alt waren. Trotz seiner Trauer schaffte unser Vater es, eine Familie aus uns zu machen. Wir schworen uns aufeinander ein. Aber ihm fehlte etwas. Olaf fehlte etwas. Mir genügten die beiden, und ich wollte keinen Eindringling in unserer Gemeinschaft. Ich mochte Anneliese nicht und zeigte es ziemlich deutlich.
    Die Lage entschärfte sich erst, als ich meine Ausbildung begann und aus Gemünd fortzog. Olaf blieb da. An dem Tag, als mir ein Freund dabei half, meine Matratze in einen alten klapprigen Fiat zu laden, kam mein neunjähriger Bruder nicht nach unten, um sich von mir zu verabschieden. Ich stand vor seiner verschlossenen Tür und wollte es ihm erklären, wie ich es ihm schon viele Male erklärt hatte, seit meinem Entschluss.
    Danach war ich oft nach Gemünd gekommen. Immer zu Besuch, nie nach Hause.
    Olaf war geblieben. Er hatte die untere Wohnung des Hauses in Beschlag genommen, blieb auch bei unserem Vater, als Anneliese nach zehn Jahren wieder aus dessen Leben verschwand und die Dinge mitnahm, die sie mitgebracht hatte.
    Jetzt stand Olaf in der Küchentür und sah mich an. Trotz seiner Speckschicht war er ein gut aussehender Mann. Als Schwester hatte ich nicht immer den Blick dafür, aber seine klaren, kantigen Gesichtszüge, ließen mich erahnen, wie ihn ein bisschen mehr Sport und ein bisschen weniger Essen verändern würden.
    Er lehnte am Türrahmen, die Hände in den Hosentaschen versenkt, und bemühte sich um einen zerknirschten Gesichtsausdruck. Seine grünen Augen, das gemeinsame Erbe unserer Mutter, funkelten wie zu unseren Kinderzeiten, wenn er etwas ausgefressen hatte. Sein Tonfall ließ Reue durchscheinen und noch etwas anderes, was ich nicht zuordnen konnte.
    »Ich wollte dich nicht bedrängen, Ina. Ich dachte nur, du bist doch die Fachfrau und weißt, was zu tun ist.« Er kam zu mir und ließ sich neben mich auf die Küchenbank plumpsen. Das rote Kunstleder pfiff leise. »Steffen ist mein Freund, und ich dachte, du magst ihn ein bisschen.« Olaf fasste die Kante der Tischdecke und rollte sie zu einem Wulst. »Du …«
    »Ich mag ihn ja auch, aber ich darf mich nun mal nicht in einen fremden Fall einmischen.«
    Olaf ließ die Tischdecke los und legte die Hände auf seine Oberschenkel. Er nickte.
    »Ich verstehe dich, Ina«, murmelte er und starrte auf seine Finger. Er wirkte angespannt.
    »Nein, das tust du nicht, Olaf. Du

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